1. Tag: Die Anreise nach Dresden
Ich hatte mich perfekt vorbereitet, um von der Abfahrt Dresden-Gorbitz mühelos nach Pesterwitz in mein gebuchtes Quartier zu kommen. Vergebens. Herunter von der Autobahn drehte ich eine dreiviertel Stunde Kreise in einer Landschaft mit Bäumen aus Absperrungen, weißrot mit Flatterband belaubt und bunten Verkehrsschildern. Am Fahrbahnrand ästen Bagger und ruhten sich Teermaschinen aus. Im Hintergrund die sonntägliche Silhouette eines leergefegten Gewerbegebiets mit Autohaus und Fliesenmarkt. An zwei Tankstellen flehte ich um Hilfe. Die Kassiererin bei Jet jammerte: „Ooch, wie soll ich Ihnen das jetzt erklären?“ Beim nächsten Versuch wusste ein junger Mann in blauer Araluniform, wo es lang geht: „Ganz einfach. Nächste rechts und übernächste wieder rechts.“ Sicher, mit diesen Ratschlägen kam man irgendwo hin, aber nicht nach Pesterwitz. Ich wurde gerettet, als ich im Gewerbegebiet ein Pärchen antraf, das damit beschäftigt war, von den Granitsteinen für die Baustelle einen Haufen in den Kofferraum ihres Autos zu verladen. Der Mann zeigte auf eine nahe Brücke in Richtung eines auf einem Hügel stehenden scheußlichen, abgewrackten, rostgrünen Sendeturms. Kaum war ich dort auf diesem Berg, so rollte ich auf der anderen Seite vorbei an Weinhängen in ein idyllisches Dorf mit blühenden Gärten und vollen Obstbäumen. Mein Zimmer hatte einen separaten Eingang. Man erreichte es über den Garten des Privathauses, und von dort hatte ich einen Blick in das Elbtal mit der städtischen Bebauung.
2. Tag: Das Historische Grüne Gewölbe, das Neue Grüne Gewölbe und die Frauenkirche
Vielleicht würde ich das versteinerte Innere einer Marzipantorte betreten, erkaltetes Gebäck aus Mineralien geformt. Vielleicht würde ich mich in einen geordneten Dschungel begeben, einer von Menschenhand geschaffenen Natur, die aus Hilflosigkeit der wirklichen Natur gegenüber eine Parallele vorstellt, die funkelt und strahlt mit ihren geschliffenen Steinen und Metallen, die verblüfft mit albernen Figürchen aus Rubinen, Lapislazuli und Onyx, die das Licht reflektiert mit goldsilbernen, blühenden Schlusssteinen.
Es dauerte eine Weile, bis ich verstand, dass ich zuerst auf die ausgestellten Preziosen hereingefallen war, da ich dachte, es ginge vorrangig darum, sie ins rechte Licht gestellt zu sehen. In Wirklichkeit geht es um den unendlichen Raum, der durch die Spiegel erzeugt wird. All die Konsolen, auf denen Plastiken, Gefäße oder Kuriositäten stehen, vervielfachen sich, zeigen in den Spiegeln Rückseiten, die sich den Vorderansichten nicht mehr zuordnen lassen. Und schon lenkt eine Spiegelung von gegenüber den Blick ab. Bewegt man sich durch den Raum, wird es immer verwirrender. Jeder Schritt eröffnet neue Perspektiven. Die Betrachtung ist unendlich. Es ist gar nicht so schlecht, das Historische Grüne Gewölbe im Nachhinein statisch in einem Buch zu besichtigen.
Erst nachdem die Eindrücke verarbeitet waren, verstand ich, dass ich nicht in einem Gewächs wie in einer Kirche gewesen war. Die älteren sakralen Bauwerke ändern im Laufe der Jahrhunderte Gestalt und Innenleben. Jede Zeit hinterlässt ihre Zeugnisse, so dass das Gesamte immer mehr oder weniger auch vom Zufall gestaltet ist, was harmonisieren kann, oft reizvoll kontrastiert oder manchmal traurig misslungen daher kommt. Das Historische Grüne Gewölbe ist im Gegensatz dazu ein vollkommen geplantes und komponiertes Ensemble. Das erzeugt einen Geist, der den Verstand fordert und die naturwissenschaftliche Neugier erweckt. Gebetet werden kann hier nicht.
Im Neuen Grünen Gewölbe sind Einzelstücke ausgestellt. Die versachlichte Präsentation raubt den Gegenständen nicht ihre Verrücktheit. Im Gegenteil - aus den Zusammenhängen gerissen bekommt man quasi eine chirurgische Ansicht auf alle Details der einzelnen Exponate. Da uns die Zeiten, in denen diese Dinge einen Sinn hatten, so fern sind, können sie genauso viel Erstaunen erzeugen wie die Kunstwerke von Außerirdischen, welche wir in Zukunft vielleicht zu Gesicht bekommen werden. Das Publikum kann nicht entrinnen, denn letztlich überzeugt all der bunte Wahnsinn schon durch seinen Materialwert. Schließlich wurden Elfenbein und Ebenholz, Gold, Silber und Bronze, Diamanten, Rubine, Smaragde, Saphire, Bergkristall und andere Steine, Muscheln, Perlen, Korallen, Straußeneier, Kokosnüsse und Rhinozeroshörner verarbeitet.
Es gibt kleine Elfenbeinfiguren, die mit Lumpen aus Ebenholz bekleidet sind. Beide Materialien, hell und dunkel, wirken sehr seltsam miteinander, wenn das Helle Fleisch und Blöße und das Dunkle nötigste Bedeckung in Form von an Leder erinnernde Fetzen darstellt.
Überhaupt zeigt sich das handwerkliche Können an der Aufgabe, verschiedenste sich widersprechende Materialien zu verbinden. Nicht immer gelingt es. Übertreibungen sind für mich Werke, bei denen Alabaster-Steinschnitt, buntes Email, verschieden farbige Edelmetalle, Perlen, Korallen und alle bunten Edelsteine der Welt zu einem Gerät zusammenfügt sind, das ein Memento mori ist und aus Sockel, Tafel, Rahmenwerken, Grotesken, Aufsätzen, Behängen, Vorder- und Rückseite besteht.
Bei einem anderen Stück hat dieser Effekt eine befremdliche, aber interessante Wirkung. Die Nymphe Daphne, die vor dem ihretwegen in Liebestollheit geratenen, sie verfolgenden Apollon davon lief und sich, als er sie fast eingeholt hatte, in einen Baum verwandelte um zu entkommen, ist im Moment dieser Metamorphose dargestellt. Alles, was bei der Schönen noch leiblich ist, der ganze Körper mit den erhobenen Armen, bis auf die Hände, ist aus Silber und das, was an ihr schon Baum ist, sprießt groß aus dem Kopf und klein an den Enden ihrer Unterarme in Form von Korallenzinken. Ohne das Wissen um die mythologische Geschichte würde dieses Werk als ein Irrtum erscheinen. Die Stücke gewachsener Natur auf eine von Menschenhand geformte Figur gesetzt, wirken grotesk. Das unbeschreibliche Rot, das nach Korallenart verästelt aus dem silbernen Kopf hochflammt, könnte auch ein gefährlicher, eingefrorener Geistesblitz sein. An den Armen allerdings wirken die Korallen schockierend wie eine Verkrüppelung. Die seltsame matte Oberfläche der Koralle in Verbindung mit ihrer wunderbaren, warmen Farbe steht im Widerspruch zum Silber, das eigentlich farblos, ganz kalter Glanz und Reflektion ist.
Eine große Fregatte aus Elfenbein wird von Neptun getragen. Auch die geblähten Segel sind aus Elfenbein. In der Takelage aus Goldfäden hängen winzige elfenbeinerne Matrosen wie hinein gewehte Baumwollflusen.
Als Zierrat einer Prunkschale, liegt Venus nackt darin. Hinter ihr türmt sich ein wohlgestaltetes Gebirge aus Gold auf, an dem ein tropfenförmiger Diamant gehängt ist. Auf seltsame und geheimnisvolle Weise war diese Szene lebendig. Trotzdem das Objekt auf dem schweren Sockel der Vitrine festen Stand hatte, und dieser auch nicht durch die Schritte der Besucher wegen des steinernen Fußbodens in Schwingungen geraten konnte, war der große, reflektierende Edelstein, über dem Kopf der Göttin platziert, in ein beständiges, gleichmäßiges Zittern geraten.
Der ausgestellte Schmuck, Orden, Ketten und Ringe missfiel mir. Eine Ausnahme war eine mehrschnürige Perlenkette, deren große aber uneinheitliche Perlen nicht perfekt rund sind und die somit ein charmant eierndes Perlmuttparkett bilden. Auch ein riesiger, blauer, ungefasster Diamant, klassisch geschliffen, ist sehr schön. Die Steine für die Ringe sind unanständig groß, die Orden funkeln schrill. Der Smaragd giftet mit kaltem Grün. Die Rubine kreischen in Magenta.
Als ich übersatt nach sieben Stunden aus den beiden Gewölben wieder ins volle Tageslicht trat, zog mich die Frauenkirche an. Sie stand da wie eine von Riesenhand abgesetzte Zuckerdose. Die vereinzelten dunklen Steine ihrer Fassade sind aus dem Kriegsschutt geborgen, verwahrt und wieder verbaut worden, was der schönen Dame im Kontrast zum ersetzten helleren Stein ein hübsches sommersprossiges Gesicht gibt. Dieser Wiederaufbau ist ein beeindruckendes Zeugnis für die kollektive Sehnsucht nach verlorenen kulturellen Ikonen samt deren anhängender Biotope. Zuerst scheute ich mich vorm Betreten der Kirche. Mich ängstigte die Neuheit des Baus, der, unfähig die alten Geister zu beherbergen ein Gemäuer sein könnte, das stumm bliebe. Ich befürchtete auch, im Inneren ein Mahnmal des Zweiten Weltkrieges vorzufinden und in eine Form von Bedrückung zu geraten, die aller Laune auf freudige Empfindungen den Garaus machen würde. Wie schön, dass ich mich irrte. Natürlich war alles neu. So ist es eben, dachte ich und bewunderte aus der Nähe den frischen hellen Sandstein, der noch saftig war.
3. Tag: Die Porzellansammlung und Schloss Pillnitz
Die Porzellansammlung im Zwinger zeigt japanische, chinesische und Meissener Stücke. In dem hellen, fast nur aus Fenstern bestehenden Pavillon möchte ich die unpassende Kleidung abwerfen und im historischen Kleid weiter gehen. Immer wieder schweift der Blick nach draußen auf Hofgarten und barocke Architektur. Das chinesische weißblaue Porzellan steht auf Konsolen und bedeckt die Wände. Die verschiedenen Dekore können nicht einzeln betrachtet werden, da der Blick unwillkürlich schweift. Die Farbigkeit macht alles gleich. Auch die vielfältigen Formen entgleiten. Es ist wie ein dunkelgrüner Wald, auf den man starren muss, bevor man unterschiedliche Pflanzen, Blätter und Farben erkennen kann. Das Künstliche gewinnt hier in der barocken Form der Präsentation etwas Naturhaftes, Gewachsenes.
Ich setzte mich in die Straßenbahn Richtung Kleinzschachwitz, fuhr bis zur Endstation, stieg auf eine Fähre um, querte den Fluss und erreichte Schloss Pillnitz. Das Schloss besteht aus zwei gegenüberliegenden, gespiegelten Wasser- und Bergpalais genannten Bauten, die an einer Seite durch das Neue Palais verbunden sind. Im weitläufigen Hof ist ein Barockgarten. Ein großer englischer Park schließt sich hinter dem Bergpalais an. Die Schauseite des Wasserpalais befindet sich samt Anlegefreitreppe direkt an der Elbe, die hier in einem leichten Bogen verläuft und Visavis eine wild bewachsene Insel umfließt. Obwohl aus einem Lustschloss im Laufe der Jahrhunderte durch Erweiterungsbauten dieses Residenzschloss entstanden ist, wirkt die ganze Anlage wie aus einem Guss. Die in freundlichem Gelb, Weiß und Rot gefasste Fassade, die rokokoverzuckerten korinthischen Säulen, die lustigen chinesischen Pagodendächer und die strahlende Natur der unterschiedlichen, begleitenden Gärten erzeugen eine Leichtigkeit, die die Wahrnehmung der wirklichen baulichen Größenverhältnisse verschleiert. Die Anlage ist beachtlich groß und doch weht überall wie ein feiner Duft eine zauberische Kunst, die das Herz berührt, die man ohne Angst in sich hinein lassen und die man als ein kleines intimes Glück mitnehmen kann. Die schöne Elbe ist hier noch eine junge romantische Frau, bevor sie sich weit im Norden als geschwollene Matrone ins Meer wälzt. Schloss Pillnitz streckt mit seiner Freitreppe einen Fuß in dieses Wasser.
4. Tag: Schloss Moritzburg und Fasanenschlösschen
Die Moritzburg, ein Jagdschloss, ist ein gigantischer ockerfarbener Klotz. An vier Ecken mit runden Türmen bestückt, ist er in einen See platziert, was das Bauwerk, unerreichbar für rivalisierendes Gemäuer, zu einem Solitär macht. Im Karree perlschnüren sich ein Zimmer mit Interieur bestückt nach dem anderen. Etliche Räume sind mit wunderbaren Ledertapeten ausgestattet.
Eine Besonderheit in der Moritzburg ist das Federzimmer. Dieses Zimmer nahm seinen Anfang mit der Anschaffung eines Paradebettes 1723 durch August den Starken. Die Überdecke, die Verkleidung und der Baldachin ziert ein Flor aus bunten und gefärbten Federn. Die weiche Oberfläche dieser Extravaganz ähnelt einem Teppich, und die verschwimmenden Blumenmuster erinnern an asiatische Ikats. Auch die Wände des Raumes sind mit diesen Federkleidern behängt. Man muss es einfach anfassen. Aber nach komplizierter Restaurierung befindet sich das Zimmer in einem staubfreien Vakuum hinter Glas. Der Betrachter ist vom haptisch anziehenden Objekt der Begierde meterweit entfernt. In dieser Situation war ich besonders froh über mein Opernglas, das mir half, dem weichen Flor zumindest mit den Augen näher zu kommen.
Der Speisesaal beherbergt die Trophäensammlung. In dem hohen Raum sind in mehreren Etagen übereinander gewaltige und bizarre Geweihe auf mit Weinblättern bekränzte Hirschholzköpfe gesetzt, deren Halsansätze mit Voluten und Akanthus berankt aus der Wand wachsen. Erschütternd ist das Zeugnis eines tragischen Buhlkampfes. Zwei unauflöslich ineinander verhakte Geweihe mit Schädeln. Die beim heftigen Gefecht in solche Lage geratenen Kontrahenten sind einst gemeinsam an Verzweiflung, vor Erschöpfung oder nach grausamer Hungertortur gestorben.
Die Themen der ausgestellten Gemälde behandeln überwiegend die Jagd. Geliebte Jagdhunde, deren Namen auf diese Weise überliefert wurden, sind ebenso porträtiert wie besondere, sehr große zu Tode gebrachte und verspeiste Hirsche. Die seltsamste gemalte Trophäe ist das Bild eines frei in der Luft schwebenden Geweihs vor bewölktem Himmel. Unbekannter Maler, Ende 17. Jahrhundert. Ich dachte erst, es sei von Magritte. Dass Jagd mit Blutverlust zu tun hat, daran erinnern Bilder, die dem Genre des Tierkampfes gewidmet sind. Eine Jagdhundmeute ist grausig verkeilt und verbissen in einen wilden Eber oder einen riesigen Wolf. Dabei blitzen schreckliche Raubtiergebisse. Es ist immer der dramatische Moment gezeigt, kurz bevor die Hunde den Gegner endgültig niederreißen, wobei am Bildrand einzelne Tiere der Meute von der gefährlichen Bestie bereits niedergemacht blutend verenden. Es gibt die naiv gemalten chronologischen Darstellungen von Hetzjagden und Wasserfesten auf dem Schlossteich. Zu sehen ist wie das Wild erst in eine weitläufige Absperrung und unentrinnbar weiter vor die Flinten der Herren gehetzt wurde, wobei die Schützen bequem in einem Holzpavillon untergebracht saßen und deren Damen im ersten Stock darüber zuschauen durften. Die Bewohner des Waldes kamen im panischen Galopp auf diese Weise zu ihrer Massenhinrichtung.
Eine halbe Stunde Fußmarsch entfernt liegt das Fasanenschlösschen. Im Rahmen einer Führung ist es zu besichtigen. Dieses Erlebnis steht in einem überraschenden Kontrast zur gewaltigen Moritzburg. Man befindet sich hier in einem zweigeschossigen Häuschen auf einer Grundfläche von 13,4 x 13,4 Metern. Die Führung ist auf 10 Personen begrenzt und die Besucher sind aufgefordert, außer in Filzpantoffel zu steigen auch noch Baumwollhandschuhe anzuziehen. Dieses macht Sinn, denn in den kleinen Zimmerchen rückt die Gruppe zusammen, Schultern und Arme streifen aneinander, ausweichend hält man sich unwillkürlich am Türrahmen fest oder hätte unbehandschuht und zurückgelehnt die klebrigen Finger auf einer kostbaren Intarsie, einer zarten Bemalung oder dem bunten Marmorstuck. Nun war ich doch in eine Marzipantorte geraten. Sie stammt aus dem Rokoko. Die Werbung betitelt das Fasanenschlösschen mit dem Begriff: Das Paradies in der Nussschale.
5. Tag: Umzug auf den Campingplatz und Meissen
Der Tag begann mit meinem Umzug von Dresden Pesterwitz auf den Campingplatz Bad Sonnenland nah Moritzburg. Gestern auf dem Weg nach dem Dresden nah gelegenen Moritzburg hatte ich am Campingplatz angehalten, besichtigte ihn, befand ihn für gut und scherte mich nicht weiter um eine Quartiersuche. Nun war ich erneut am Ort und entschied mich, mein Haus halb unter einer Eiche zu bauen, an einem Standort nicht allzu fern den fließenden Wasseranlagen und dem Restaurant, im Rücken das an dieser Stelle unzugänglich mit hohem Schilf bewachsene Seeufer. Der Campingplatz, schon zu DDR-Zeiten ein internationaler, war stark von Niederländern frequentiert. Das große Gelände bot allen Spielarten mitteleuropäischen Nomadentums eine Möglichkeit. Reiche ohne mitgebrachte Behausung konnten eine der teuren Einheitsholzhäuschen mieten, doch die meisten reisten mit einem mehr oder weniger großen Zelt im Kofferraum oder einem angehängten Wohnwagen an. Es gab auch einen Ortsteil mit Dauercampern, aber ich gesellte mich zu den Durchreisenden. Mein grüngraues Zelt stand aufgrund gesplitterter Fiberglasstäbe schief und es wurde immer schiefer. Das Auto, mein Packesel, war nun auch mein Kleider- und Kühlschrank, Bibliothek, Kunstbüro und Frühstückszimmer. Und sah ich den alten roten Ford Fiesta mit dem armseligen Zelt nebeneinander stehen wie Stan Laurel und Oliver Hardy, dann rührte mich das.
Nach meinem Umzug besuchte ich Meissen, eine Stadt, deren Strassen und Häuser an einem Berg hochklettern. Als ich im Meissener Dom wider Erwarten von einer netten Dame im Kirchenbüro die Fotografiererlaubnis erhielt, stieg ich den Burgberg hinab, holte meine Fotoausrüstung aus dem Auto und stieg etwas schwerer beladen wieder hinauf. Bei der Arbeit des Fotografierens verlor ich den Gesamteindruck. Diesen konnte ich mir später bei der Betrachtung der vielen entstandenen Bilder nachträglich abrufen. Die Kirche ist zwar ein Dom, mir erschien sie trotzdem weiblichen Geschlechts. Sie besitzt einen nicht einfach überschaubaren Korpus, ist keine gemütlich daher schwankende, mütterliche Kogge, vielmehr ein schlankes schnelles Vollschiff. Alles strebt in die Höhe. Die gerippten Pfeiler stehen so eng, dass die schmalen Seitenschiffe gar nicht einsehbar sind, übersieht man die gesamte Länge des Mittelschiffs. Auf diese Weise entsteht ein Wald mit kerzengerade gewachsenen Stämmen aus grauem Sandstein. Ganz oben, im Detail nicht mehr erkennbar, finden sich feine floral geschmückte Kapitelle, die das aufeinander zuwachsende Streben bis zu den zusammenführenden Schlusssteinen kurz aufhalten. Der Weg für einen anderen Blick auf solcherlei Schönheit führt über eine enge Treppe, die sich in dem Hohlraum einer steinernen Hülse, Drehschwindel erzeugend, über mehrere Geschosshöhen bis auf einen Balkon hochschraubt. Dieser Ausblick bringt den Besucher dem „Himmelsloch“ näher, einem besonderen, ringförmigen Schlussstein von seltener Größe. Sein grün und gold belegter Rand umrahmt eine dunkle, nicht einsehbare Öffnung, die als das Atemloch eines höheren Wesens darauf wartet, die Seelen, die dazu bereit sind, einzusaugen, um sie woanders, in einer anderen Welt, wieder zu entlassen.
Die Albrechtsburg, ein spätgotischer Bau, wurde 1873-1882 ausgemalt, nachdem erreicht war, dass die dort beherbergte Porzellanmanufaktur auszog. Ich beneide die Restauratoren nicht, die heute mit den historistischen Hinterlassenschaften umgehen müssen. In diesen Werken vermittelt sich ein irritiertes und unzufriedenes Zeitalter, das ein falsch gesehenes deutsches Mittelalter in einer Weise heroisiert, dass heute, wo das letzte Jahrhundert mit seinen Kriegen überblickt werden kann, jedem historisch bewussten Menschen im nachhinein Angst und Bange werden kann. Die Figuren agieren in unechten Posen. Nationale Ereignisse zaubern religiöses Verzücken in die Gesichter der braven Bürger, die von den Malern in altertümliche Trachten gekleidet, als unbegabte Statisten in einer hergesehnten altneuen Welt umherwandeln. Diese Gemälde überziehen wunderbare spätgotische Sterngewölbe, die in diesem Profanbau fast greifbar niedrig, überschaubar und teilweise ohne Rippen sehr zart erscheinen. Es gibt auch floral gefasste Decken, die nicht ganz so sehr drücken. Ein solcher Saal, unter einem Himmel von schwarzblauen Rosetten, rot verglimmenden Knospen und dunkelgrünem Laub, verbreitet morbiden Charme. Das dazugehörige historistische Mobiliar scheint den verblichenen Heroen vergangener Epochen angemessen, in seinen Ausmaßen für halbe Riesen gefertigt. Während ich auf Filzpantoffeln dahin glitt, drängte sich mir die Gewissheit auf, dass die Requisiteure Hollywoods in dieser Umgebung für zweitklassige Gruselfilme spioniert haben müssen, um bleiche schreckhafte Frauen inszenieren zu können, die von besessenen Männern verfolgt und gequält werden. In einem anderen Teil der Burg sind die schönen gewölbten Decken sowie die Wände nur geweißt und bilden die Umgebung für eine Präsentation figürlicher Plastik des Mittelalters.
6. Tag: Pirna, Schloss Weesenstein und das Müglitztal
Nachdem ich die erste Nacht in meinem Zelt genauso gut geschlafen hatte wie zuvor in meinem Zimmer, machte ich mich reisefertig. Es zog mich nach Pirna. Pirna ist ein schönes Wort. Ausgesprochen klingt es wie das satte Aufspringen einer reifen Samenkapsel. Ich erreichte die Stadt zur Mittagszeit. Im Grunde widmete ich mich nur der Marienkirche. In der Touristenzentrale hatte ich inspirierende Bilder der Kirche in einem aufwändigen Buch gesehen, aber als ich sie betrat, war ich enttäuscht. Für einen Euro im Besitz einer Fotografiererlaubnis wusste ich nicht, wohin ich das Objektiv richten sollte. Im Inneren der Kirche war es dunkel wie in einer Gruft. Zudem spielte jemand eine donnernde Orgel nach Noten, die im Gedanken an den alttestamentarischen Gott entstanden sein mussten. Dagegen konnte man nur den Kopf einziehen. Und wiederum sah ich erst später auf den wenigen Fotos, die ich gemacht hatte, dass die Marienkirche zu Pirna einen ganzen Film wert gewesen wäre. Die fein gewirkten Netzgewölbe werden von gestreuten, vielfältigen, fantastischen Blüten begleitet. Und dort, wo sich die achteckigen Säulen in die Decke stemmen, die Rippen sich auffächern wie unter einem aufgespannten Schirm, sind in den Zwickeln sehr bewegte spätmittelalterliche Bilder mit biblischer Thematik gemalt. Rechts und links über dem Altar klettern eine wilde Frau und ein wilder Mann, beide im grünen Fell, sowie ein Affe an knorpeligen Stämmen empor.
Ich fuhr weiter in das Müglitztal, um ein verrücktes Schloss zu sehen. Während siebenhundert Jahren Bauzeit ist Schloss Weesenstein, auf einem Berg gelegen, von worden. Somit befinden sich die älteren Teile des Gebäudes über den späteren Erweiterungen: der Festsaal auf dem Dachboden, die Pferdeställe in der fünften Etage, darunter die Kellergewölbe und noch ein Stockwerk tiefer gelegen die herrschaftlichen Wohnräume. Die unübersichtliche mehrflügelige Anlage hat drei Fensterreihen, aber acht Geschosse und zweihundert Zimmer. Jedes dritte Fenster ist malerisch vorgetäuscht, um von außen betrachtet den Besucher über das wahre Innenleben dieses Baus zu belügen.
Der Besucher darf sich fünfunddreißig von zweihundert Zimmern ansehen. Im Inneren des Schlosses ist alles durcheinander. Es gibt feine Zimmer mit erhaltenen Papiertapeten, finstere Löcher und Folterhaken, dann den Dachboden, der mittelalterliche Freskoreste aufweist. Man wandelt wie durch ein Jahrmarktslabyrinth eine halbe Treppe hoch, in einem komischen Winkel abgezweigt einen Gang entlang, eine ganze Treppe herunter, ein Blick durchs Fenster auf einen Hof, der mit nichts zu tun hat, was man vor dem Schloss stehend gesehen hatte. Eine der berühmten Papiertapeten ist eine Chinoiserie. Was hat die Menschen seinerzeit wohl bewogen, sich ihr Wohnzimmer inmitten einer Parallelwelt einzurichten? Sie waren umgeben von Chinesen mit runden Augen und Hakennasen. Neben ihnen wurde zu Götzen im Palmenhain gebetet, wanderte eine feine Dame von einem Schirm tragenden Diener begleitet vorüber und fuhren hölzerne Häuser zur See. Eine andere gemalte chinesische Tapete gefiel mir sehr. Blüten, Blätter, Äste und Vögel schwebten über die Wände. Die Malerei war wie eine sehr feine Zeichnung und wirkte als solche wie unfertig koloriert. An den Ästen, vorwiegend an deren Sichtkanten, klebten unzählige giftig smaragdgrüne Perlen. War das künstlicher Tau oder ein gemalter Ungezieferbefall?
7. Tag: Die Bastei
Während der Wagen durch eine sanft gewellte Hochebene rollte, sah ich bald die Hinweisschilder zur Bastei. Die Reise endete auf einem riesigen Parkplatz vor einer resoluten Wächterin, die erst nach dem Ablass zur Seite trat. Von hier konnten die Besucher zu Fuß oder mit dem Bus weiterkommen. Ich nahm den bequemen Bus, der leicht bergab fuhr. Es war nichts zu sehen von der erwarteten bizarren Landschaft. Ab der Endstation führte der Weg zu Fuß an einem Parkplatz für Privilegierte vorbei in Richtung einer Betonrestauration, die das Aussehen von geborstenen Schollen hatte, die den Blick verstellte und wo hindurch der Weg erpresserisch führte. Von einer der Terrassen dieses Bauwerks hatte ich den ersten schönen Blick in das Elbtal. Besonders zwei Kegel ragten hoch, die wie vereinzelte ehemalige Vulkane die Landschaft beherrschten. Auf einem erkannte ich die Festung Königstein, deren Mauern exakt am Rand des Gipfelplateaus rundum ansetzen und deren Unbezwingbarkeit jedem, dem sich dieser Anblick bietet, glaubwürdig erscheint. Nach dieser Fernsicht musste ich durch ein enges Spalier von bunten Verkaufsständen für Touristen mit Eis, Bratwurst, Postkarten und Dingen, die keiner braucht, die aber mit Bildern vom Ort beklebt waren oder nicht einmal das. Ich rechnete mit einer Eintrittskasse. Dass es keine gab, wurde klar, als ich, den Konsumtempel hinter mir gelassen, auf einem bewaldeten Weg weiterging, der seltsamerweise bergab führte.
Endlich gab es die ersten kleinen Ouvertüren für das, was ich erwartete. Schmale Wege führten links auf kleine Plattformen, die durch das Grün hindurch den Blick auf die bewachsenen Felsentürme freigaben. Die Bastei ist nicht nur eine historische Brücke, sondern ein Gelände, in dem man sich auf Wegen und Treppen geführt in den Felsen bewegen kann, und das am Rand der Klippen mit dem Ausblick auf die tief unten fließende Elbe endet. Mittendrin entdeckte ich dann doch eine Kasse. Einer Frau in einem rührenden Holzkasten gab ich gern das verlangte kleine Geld, um mir alles zu erobern, was geboten würde. Ich fand Standorte, an denen es unter rauschenden Bäumen bei gleichzeitig freiem Blick in die Ferne möglich war, einem anderen Baum auf den Wipfel zu spucken. So steil sind die Etagen, in denen sich in Rissen des Gesteins die Vegetation festkrallt und nach oben strebt. Unter diesen Tapfersten der Tapferen sah ich Buche, Eiche, Birke, Vogelbeere, Kastanie, Ahorn, Kiefer, Tanne, Farn, Heidekraut und Glockenblumen. Ich war immer noch verwirrt, dass der Weg zu diesen Felsen bergab gegangen war, empfand ich mich doch in dem zerrauften Gebirge an höchster Stelle stehend. Legte ich jedoch den Kopf etwas in den Nacken, sah ich in der Ferne ruhige, höher liegende, bewaldete und bewirtschaftete Flächen, aber genau vor mir standen graue, vom Wetter gefräste Gesteinsformationen, die sich aus einem grünen Polster erhoben, und senkte ich den Blick, so kam mir der Schwindel von den abenteuerlichen Abgründen, deren Ansichten beim Weitergehen dramatisch wechselten und aus denen immer wieder einzelne, verwegene Eremiten mit ihren Ästen winkten. Noch tiefer gelegen ist die Vegetation endgültig siegreich und überdeckt irgendwann den schrundigen Fels, so dass man die Stelle nicht sehen kann, an der man bei Absturz zuletzt aufschlagen würde, falls man unterwegs nicht in einem Geäst hängen bleibt. An diesem Tag wehte ein Wind, der das auf- und abschwellende Rauschen des Laubes beständig vernehmen ließ. Der bewölkte Himmel erzeugte ein kaltes Licht und ließ das Gestein in einem eisigen Grau erscheinen, so eisig, dass das kontrastierende Grün seine Lebendigkeit einbüßte und das eines gleichgültigen, unbarmherzigen Dschungels wurde.
Zurück in Bad Sonnenland setzte ich mich zur Feier des Tages mit einer Flasche Rotwein in der Dämmerung an das Ufer des Sees, der einige hundert Meter von meinem Zelt entfernt seinen Ring aus Schilf geöffnet hielt und hier einen richtigen kleinen Strand hatte. Ich sah auf eine Insel, und am Horizont führte der Damm einer Schmalspurbahn seine Gleise auch über eine kleine Brücke, die den See an einer schmalen Stelle überspannte. Diese Bahn fuhr ein paar Mal am Tag und erschreckte mich immer mit ihrer lauten Dampfhupe. Ich war allein. Der Mond war aufgegangen, der Rotwein stieg mir in den Kopf, und die Wasservögel gingen nach und nach geräuschvoll im Schilf zu Bett. Im Hintergrund grollte ferner Donner. Von einer Sentimentalität ergriffen, trieb mich ein Mitteilungsbedürfnis dazu, zum Mobiltelefon zu greifen, um mir bekannte Stimmen an mein Ohr zu holen und selber zu reden. Noch während ich lallend meine Glückseligkeiten verkündete, brach über mir plötzlich das herangeschlichene Gewitter los und goss mir zur Ernüchterung kübelweise Wasser auf den Kopf, in den Kragen und letztlich überall hin. Als ich mein Zelt erreichte, war ich klatschnass. Trotzdem hatte ich alles richtig gemacht. Nach der Einnahme des Rotweins als eine gute Medizin konnte ich sofort einschlafen und hörte das laute Prasseln auf das Dach meines Hauses nicht mehr. Alle, die sich nüchtern und zeitig hingelegt hatten, waren jetzt wohl hellwach.
8. Tag: Urlaub auf dem Campingplatz
An diesem Sonntag war eben Sonntag. Ich blieb auf meiner Luftmatratze liegen, bis die Sonne mein Zelt in einen Brutofen verwandelte. Vom Bettlager vertrieben, ging ich meinen Geschäften nach. Der Umgebung angepasst, konnte ich meine schlotterige Trainingshose den ganzen Tag tragen und es genießen, meine indischen Plastikschlappen an den nackten Füßen zu haben. Ich liebte es, diese federleichten Gebilde aus gegossenem hellblauem Schaum, bestückt mit einem klarsichtigen, gelochten Riemen zu tragen. Bei jedem Schritt musste sich der Fuß im Absenken vergewissern, ob er auch auf der Sohle niederkommt, anstatt an ihr vorbei in den Dreck zu rutschen, um danach, wenn das Gewicht auf der anderen Seite war, im Erheben das schmatzende Aufklatschen des hochschwingenden, halbseidenen Schuhwerks an der Hacke zu fühlen. Auf dem unebenen Gelände war es so nicht anders möglich, als den gemessenen, wiegenden Gang einer würdevollen Schlampe anzunehmen. Mir, die ich von einer inneren Unrast eher zu schnellem Schritt getrieben bin, kam diese Art der Fortbewegung tatsächlich wie die Essenz eines Urlaubsgefühls vor. Ich bummelte zum See, ließ mich dort zum Lesen und Schreiben nieder und sprang einmal ins Wasser, um zu schwimmen. Damit war der Tag ausgefüllt.
In meiner Nachbarschaft hatte sich ein blutjunges Paar niedergelassen. Außer einem komfortablen Zelt besaßen sie einen Tisch und zwei Stühle. Nur sah ich kein Auto und keine Fahrräder. Es war mir schleierhaft, wie die beiden auf den Campingplatz gekommen waren. Die junge Liebe spielte verheiratet sein. Es war kurios und mir ganz fremd, wie sie Ehemann und Ehefrau übten. Das Mädchen deckte unsicher den Tisch. Der junge Mann ließ sich nervös bedienen. Das Mädchen sagte: „Trink doch das Glas erst aus, bevor du dir nachschenkst!“ Der junge Mann platzte los: „Du bist wie meine Mutter!“ Sie sahen sich erschrocken an und schwiegen eine Weile. Ansonsten wussten die beiden nicht so recht etwas miteinander anzufangen. So schien es mir. Jeden Tag kamen die Eltern zu Besuch, um nach dem Rechten zu schauen. Die Familie saß dann brav beisammen. Sie kochten und aßen gemeinsam. Hatten die Erwachsenen die beiden nach Unabhängigkeit lechzenden Liebenden halbherzig auf einem Campingplatz ausgesetzt, um ihnen ein bisschen Freiheit zu erlauben, ohne die Kontrolle zu verlieren? Oder wurden hier zwei lästige Nesthocker vorsichtig ausgewildert? Mir war es ein Rätsel.
9. Tag: Schloss Rammenau und Görlitz
Am Morgen baute ich mein Zelt ab und verstaute all mein Reise-Hab und Gut in den rollenden roten Veteranen, dem ich mich nun wieder ganz anvertrauen musste. Für mein nächstes Ziel, Schloss Rammenau, brauchte ich nur ein bisschen auf der Autobahn in Richtung Görlitz zu fahren, so dass ich dort pünktlich um 10 Uhr miterleben konnte, wie die Computerkasse hochgefahren wurde. Gegen einen kleinen Betrag erhielt ich eine Fotografiererlaubnis. Schloss Rammenau ist ein barocker Bau, zu betreten durch ein Torhaus und von Kavaliershäuschen flankiert. In seinem Inneren findet man eine weitgehend erhalten gebliebene klassizistische Einrichtung. Den Hof verschönt ein geordnetes Beet mit Skulpturen. Hinter dem Schloss befindet sich heute anstatt des Barockgartens ein Landschaftspark, der 1820 angelegt wurde. Die Stilbrüche haben hier allein zum Vorteil des gesamten Ensembles beigetragen. Die Anlage präsentiert sich in einer angenehm übersichtlichen Größenordnung. So war ich von den Dimensionen nicht angegriffen und konnte, wie von einem hausfraulichen Ehrgeiz gepackt, alles in den Räumen mit meinen Augen betasten und gleichsam zu meinem Vergnügen ausputzen. Das fiel nicht schwer, denn das, was mir entgegentrat, war von einem unverdächtigen, unschuldigen, ja beinahe biederen Schönheitswillen getragen. Das Treppenhaus erschien als ein rund gebauter Tempel. Von überall führten Stufen hoch auf eine Galerie. Unten führte eine offene Kolonnade in den Garten. Das alles war malerisch vorgetäuscht, wobei sich eine der Treppen als echt erwies. Im ersten Stock konnte ich durch einen Festsaal sowie ein Chinesisches, Bulgarisches, Pompejanisches, Vogel-, Kornblumen- und Jagdzimmer gehen. Am Schönsten war etwas, das ich trotz aller Kameraobjektive nicht fotografieren konnte. Die in allen Räumen bruchlos erhalten gebliebene Gesamtkonzeption der Gestaltung zelebrierte in den verschiedenen Stilen immer wieder einen anderen Übergang der Wände in die Decke. Der das erfassende Blick war nur in Bewegung zu erlangen. Also drehte ich mich mehrmals um die eigene Achse, wobei ich den Kopf in unterschiedlichen Graden in den Nacken legte, um auch die Deckenmalerei zu bereisen. Sich so in das Innere eines geschmückten Kästchens versetzt zu fühlen, ganz von Kunst umgeben, ist eine vorzügliche Behütung. Als etwas Besonderes empfand ich die in einigen Räumen gemalten floralen Ornamente. Auch sie waren im Grunde nicht zu fotografieren. Wie auf einer Streckbank meterlang gezogen und haardünn geworden, konnten sie nicht im Zusammenhang aufgenommen werden, da ihre Feinheit auf den Fotos im Detail nicht mehr erkennbar gewesen wäre. Die blassen schlichten Blüten, deren gebrechliche Stängel, manchmal mit schmalen Blättern besetzt, genauso fein wie die Risse im Putz sparsam dahinrankten, waren wie zerrissenes Spinnengewebe fast gar nicht existent. Anders die rotweißen Malven auf einer Papiertapetenbordüre. Rund und dick über fächerförmigem grünen Blattwerk voll aufgeblüht, ließ dieses schiere Leben keinen Platz für das Durchschimmern eines Hintergrundes.
Zurück auf der Autobahn fuhr ich an Bautzen vorbei und erreichte am Nachmittag Görlitz. Bei regnerischem Wetter lief ich herum und betrat zwei Kirchen. In der Dreifaltigkeitskirche, einem morbiden Haus, in dem die Postkarten- und Heftchenverkäuferinnen mit derselben moderigen Patina belegt schienen wie Wände, Decken, Altäre und Gestühl, wurde fromm gepredigt und gebetet. An den Decken eines sehr niedrigen Kreuzrippengewölbes, das inmitten der Kirche eine Empore trug und wie der eingewachsene Rest eines ehemaligen Kreuzganges wirkte, fand ich bildliche Darstellungen, die auf mich den Eindruck machten, dass sie ausreichend Kräfte besitzen könnten, um in die Köpfe ungefestigter Persönlichkeiten den Samen für zersetzendes Gedankengut zu pflanzen. Dabei handelte es sich um fantastische Blumen. Der unbekannte Künstler aus dem 15. Jahrhundert hatte möglicherweise außer Acht gelassen, dass solche Kreaturen in der Regel an den höchsten Punkten eines Kirchenhimmels angesiedelt werden sollten, wo sie sich von selbst verkleinern und entschärfen. So aber schwebt das obszöne Panoptikum fast greifbar über den Kirchgängern. Alles an dieser bunten Vegetation ist fleischlich. Es sind geschwollene Blütenknospen oder Fruchtstände, die bequem auf einem fetten, gefächerten Kranz gebettet ihre feisten Blattfinger nach Beute ausschicken. Aus manchen dieser Blätter wachsen Stängel, die als versteifte Seile Blütenköpfe mit den Gesichtern von Kannibalen tragen. An ihren Hälsen verschlungen, versuchen die bösen Blumen sich gegenseitig abzuwürgen. Dazu pumpt die dicke Mitte unter Dampf, stoßweise ein weiteres Geranke von gefährlichem Blatt- und Blütenwerk, das sogleich suchend umherfingert, so dass das ganze Gewächs ein sich selbst lustvoll verschlingendes und erzeugendes Wesen darstellt.
In der Kirche St. Peter und Paul bekam ich ein ganz anderes Geschenk. Als ich eintrat, erblickte ich ein großes Jugendorchester, das vor einer Probe stand. In hoher Lautstärke und bester Akustik vernahm ich die Stimmen der Instrumente, die in Gleichklang gebracht werden mussten, so dass ich, obwohl ich das Konzert nicht miterleben würde, doch in die Spannung einer Vorfreude auf einen Musikgenuss geriet. Dann wurden die Besucher gebeten, das Gotteshaus zu verlassen. Ich verließ Görlitz mit einem kleinen Schmerz, denn ich hatte hier eine Verheißung gefühlt, vor der ich floh. Aus meinem Reiseführer hatte ich gelernt, dass Görlitz in Schlesien liegt und tatsächlich kam es mir so vor, als wäre die besondere Architektur der Stadt für eine niedriger stehende Sonne gebaut. Bei den üppigen Ornamentierungen an den Häusern schienen die Formen in den Stein tiefer gegraben als anderswo, um vielleicht im Abendlicht ein imposanteres Schattenspiel zu liefern. Dieses genauer zu untersuchen hätte bedeutet, mich immer weiter in den Osten zu verlieren, um dort ein unbekanntes Land zu erleben, und eine magnetische Kraft für diese Bewegung fing in Görlitz an zu ziehen. Schnell sagte ich mir wie ein Mantra den Namen meines nächst geplanten Ziels vor: Muskau. Muskau hatte für mich den Klang wie für andere der Name Jerusalem.
So ging es weiter in Richtung Norden, wobei ich durch eine nicht sonderlich beeindruckende Landschaft fuhr, was den Reiz meines Ziels nur erhöhte. Muskau, das heute Bad Muskau heißt, hatte ich ganz schnell passiert, war plötzlich in Polen, kehrte um und plagte mich damit, den anvisierten Campingplatz in einem kleinen, ein paar Kilometer entfernten Ort zu finden. Hier, wo anscheinend immer noch alles im Bann einer schwierigen Grenze lebt, hatte man vergessen, die für Ortsunkundige nötigen Hinweise auf die nähere Umgebung aufzustellen. Wie angezeigte Fluchtwege, die zum rettenden Ausgang weisen, fand ich immer nur Schilder für die Bundesstraßen, die in die Metropolen in Richtung Westen führten. Am Campingplatz angekommen, zu dem ich mich schließlich durchgefragt hatte, stand ich vor einer verschlossenen Tür, die mit Verbotshinweisen bepflastert war, worunter ich aber zum Glück auch eine Tafel fand, auf der geschrieben stand, dass man nach 18 Uhr am nächsten Tor Einlass finden würde. Dort traf ich auf die Herbergsmutter, die im Kampf mit einer neuen Welt allein gelassen, nicht unfreundlich, aber von Tristesse gebeugt, die letzten Zuckungen eines ehemaligen Urlaubsparadieses beaufsichtigte. Ich durfte das Auto nicht neben dem Zelt parken, eine Restauration gab es nicht und ab 20 Uhr würden alle Tore geschlossen werden. Sie gab mir einen Schlüssel dafür, den ich nicht benutzte. Ich baute das Zelt auf, setzte mich ins Auto, öffnete einen Piccolo und telefonierte mit meiner Freundin in Berlin. Den zum Platz gehörigen traurigen schwarzen See, an dessen Ufern Rutschen und Absprungrampen verrotteten und der einem wirklich den Rest geben konnte, sah ich glücklicherweise erst am nächsten Morgen, als ich frohgemut wieder abreisen konnte.
10. Tag: Muskau
In dem kleinen Städtchen Muskau, dessen Charme noch entwicklungsbedürftig war, stand bei jeder sich bietenden Gelegenheit ein Parkautomat, mit dem man nicht feilschen konnte, was der Umgebung angemessener gewesen wäre. Eine findige Hausfrau bot auf ihrem Privatgrund zum festen Tagespreis Platz für abzustellende Autos. Ich klingelte, wie auf einem Schild angewiesen, an ihrer Haustür, um zu bezahlen. Anstatt mich zu ärgern, hielt ich ein angeregtes Schwätzchen mit der Dame und machte mich anschließend auf in Richtung zum Park. Ein kleiner Platz, auf dem ein sparsamer Wochenmarkt stattfand, war abgeschlossen durch einen hässlichen Nachkriegsbau, der die Ansicht des Alten Schlosses verdeckte. Dort angekommen, kaufte ich einen Plan. Als ich ihn studierte, wurde mir klar, dass der Park mit seinen Ausmaßen von 598 ha niemals an einem Tag kennen zu lernen war. Aber ich brauchte dieses Problem nicht lange zu begrübeln. Als ich zur ehemaligen Schlossremise kam, fand ich einen Fahrradverleih und stieg von zwei Füßen um auf zwei Räder. Durch den Park fließt die Neiße. Eine erst jüngst wieder errichtete Brücke über das schmale Flüsschen führt in den polnischen, größeren Teil des Parks. Dort steht auf deutscher Seite ein schwarz-rot-gelber Pfahl, auf polnischer Seite ein rot-weißer Pfahl. Abgesehen davon, dass der deutsche Teil des Parks nahe bei den Schlössern liegt und hier die Anlage viel künstlicher ist als bei dem polnischen, wilderen Teil, der einst auch bewirtschaftet wurde, gab es noch weitere Unterschiede. Schon die binationalen Ufer des Grenzflusses, den man hätte durchwaten können, sahen unterschiedlich aus. In Polen wuchs die Auenwiese, wie sie wollte, ungeschoren zum Wasser hin, in Deutschland war sie geschnitten bis auf einen schmalen Saum an der äußersten Böschung, soweit wie das Mähgerät hingereicht hatte. Bei meiner Spazierfahrt auf deutscher Seite begegnete ich anderen Besuchern und mit zwei Frauen in tadelloser Berufskleidung tauschte ich ein Lächeln aus, während sie weiter den Kies auf dem Weg harkten. Als ich in Polen auf unebenen Sandwegen tief ins Parkgelände vorgedrungen war, befand ich mich fast allein, traf erst einen Angler, der mich ignorierte, dann Pilz- und Beerensammler, die mich misstrauisch beäugten.
Zu Anfang befürchtete ich, nicht die Sinne zu besitzen, um das Besondere dieser Landschaft zu erkennen. Nichts kam mir außergewöhnlich vor. Die gepflegten Anlagen nahe den Schlössern hatten mich nicht überrascht. Die meiste Zeit verbrachte ich im polnischen Teil des Parks. Aber auch hier sah ich vorerst nichts Sensationelles. Das Radfahren auf den Sandwegen, die frische Luft und eine langsam erlöschende Erwartungshaltung, die nicht in eine Enttäuschung überging, brachten mich dazu, über gar nichts mehr nachzudenken und einfach nur das anzusehen, was sich bot. Dieses einfache Glück war eine wahrhafte Verzauberung, und ich kann nicht sagen, ob es zehn Minuten dauerte oder zwei Stunden. Ich überquerte eine mit hohem Gras und Blumen bewachsene Lichtung, auf der einzelne imposante Eichen standen. Über mir flog ein unbekannter dunkler Vogel und ließ einen Ruf hören, wie ich ihn noch nie vernommen hatte. Im hohen Laubwald musste ich das Rad steile Hügel hinauf schieben. Der Schleier aus belaubten Ästen öffnete sich plötzlich, und ich sah über Wiesen hinweg das Neue Schloss als bunten Knopf unter mir aus dem Grün blinken. Den Gedenkstein für Fürst Pückler wollte ich flüchtig mit dem Fahrrad umrunden, doch ein dorniger Spross einer Rose, die zu Füßen des Denkmals wuchs, griff nach mir, krallte sich in meinen Jackenärmel, ließ nicht los und zwang mich vom Fahrrad. Als hätte ich für eine Sünde eine Ohrfeige erhalten, stellte ich das Rad voller Reue ab und ging die Runde zu Fuß. Ich kam an eine große Obstbaumwiese, wo ich Mirabellen aufsammelte. Dann wieder ging es in einen Kiefernwald und weiter durch eine Allee mit alten Kastanien bis ich irgendwann gelbe Getreidefelder durch die Bäume schimmern sah. Als ich wieder anfing zu denken, erkannte ich, was passiert war. Ich hatte ein dreidimensionales Landschaftsleporello bereist. Das Wort Landschaftspark bezeichnet sehr genau das Werk Pücklers. Das, was sich als reine Natur präsentiert, ist in Wirklichkeit ein durch den Eingriff des Menschen entstandenes Abbild der reinen Natur. Der Glaube an ein sich selbst überlassenes Wachstum wird durch die nicht zufälligen Sichtachsen auf das Schloss, das gelenkte Wasser, Bauwerke mitten im Wald oder Alleen, die nirgendwo hinführen, angenehm erschüttert. Die Natur, sich selbst überlassen, würde hier ein wildes Gestrüpp hervorbringen, was aber in unseren Landstrichen nicht ertragen werden kann, und so gibt es wohl auf unserer Erde die reine Natur nur noch dort, wo die Landschaft extrem und nicht zu bewirtschaften ist, wie im Hochgebirge, in den Wüsten, am Meer und im ewigen Eis. Bevor es sich am Nachmittag einregnete, war ich fünf Stunden unterwegs gewesen und hatte die glücklichsten Momente meiner Reise erlebt. Warum das so war, kann ich nicht erklären und deshalb habe ich auch keine Worte dafür. Wirklich kennen lernen kann man diesen Park nur, wenn man in der Nähe wohnt, die Möglichkeit hat, ihn jederzeit zu besuchen und dort seine und die eigenen Veränderungen wieder und wieder im Einklang erlebt.
Ich kehrte Muskau den Rücken und fuhr auf einer Bundesstrasse, die mit Baustellen gespickt war, zurück in Richtung Bautzen. In einer flachen, öden Gegend ohne Ortschaften, die in meinem Kartenwerk die widersprüchlichen Bezeichnungen „Muskauer Heide“ und „aufgefüllter Tagebau“ trugen, bekam ich eine leichte Panik bei der Vorstellung, mein betagtes Fahrzeug könnte ausgerechnet hier seinen Dienst versagen und ich wäre gezwungen, auf diesem Friedhof zu verweilen, wo es mir genug zu schaffen machte, an allem einfach nur vorbei zu fahren. In einer dramatischen Beleuchtung kamen langsam zwei gewaltige Kühltürme immer näher. Sie glitzerten fast genauso weiß wie die dampfenden Schwaden, die sie abließen und schienen riesige von hinten abgestützte Kulissen aus Pappe zu sein. Immer größer werdend verursachten sie geradezu einen Sog, verschwanden aber plötzlich nach einer Kurve, als wären sie eine Fata Morgana gewesen. Nahe Bautzen versuchte ich halbherzig und ohne Erfolg, ein Nachtquartier zu finden. In Bautzen fuhr ich in die Altstadt. Bei der Aussicht auf eine Stadtbesichtigung verließen mich die Kräfte, so dass ich verzichtete und ohne anzuhalten auf die Autobahn in Richtung Dresden fuhr. Ich benutzte die Abfahrt mit dem schönen Namen „Wilder Mann“, um nach Bad Sonnenland zu kommen. Mir war nichts anderes eingefallen, als die letzte Nacht meiner Reise dort zu verbringen, wo ich mich auskannte.
11. Tag: Die Kunst- und Naturaliensammlung der Franckeschen Stiftungen in Halle
Für meine Heimreise hatte sich das Wetter gebessert und nachdem in Halle für meinen letzten Besuch das Fahrzeug in einer Tiefgarage untergebracht war, konnte ich der Sonne das überlassen, was an den vorangegangenen Tagen meine übereinander getragenen langärmligen Pullover getan hatten, nämlich mich zu wärmen. Um in die Kunst- und Naturaliensammlung zu kommen, wurde es vor Ort unerlässlich, sich mit den Franckeschen Stiftungen auseinander zu setzten. August Hermann Francke, 1663 in Lübeck geboren und 1687 während eines Aufenthaltes in Lüneburg von einem Bekehrungserlebnis zum Pietismus geführt, gründete 1698 als Theologe und Pädagoge in Halle ein mit Spendengeldern finanziertes Waisenhaus, das sich unter seiner Leitung und später der Leitung seiner Nachfolger zu einer Institution erweiterte. Ausgehend von dem Gedanken, dass die Welt nur verbessert werden kann, wenn darin bessere Menschen wirken, hatte Francke sich verwahrloster Kinder angenommen, um sie zu erziehen, zu bilden und zu fördern. Neben dem Waisenhaus entstand so eine Schule, die dank ihres guten Rufs bald zu einer großen Lehranstalt heranwuchs, in der ebenso die Kinder bemittelter Eltern ihre Bildung erhielten, was mehr Ruhm, mehr Geld und Unterstützung von betuchter und einflussreicher Seite brachte. Schon in der ersten Gründerzeit wurde zu Lehrzwecken die Kunst- und Naturalienkammer errichtet, die auch interessierten Besuchern gezeigt wurde.
Der längliche Saal ist eingerichtet mit bemerkenswerten Schränken und Ausstellungsstücken verschiedenster Art, die sich am Boden aufgestellt, von der Decke hängend und an den Wänden befestigt befinden. Gottfried August Gründler, Maler, Kupferstecher und Naturkenner, erhielt 1736 den Auftrag, Ausstellungsschränke anzufertigen, die Sammlung zu ordnen und zu katalogisieren. Die barocken Schränke erhielten für die ihnen zugedachten Teile der Sammlung innen eine individuelle Aufteilung zur Aufbewahrung. Äußerlich sind ihre Ansichten mit der Ordnung in Unterschrank mit Holztüren, Schauteil mit verglasten Türen und Aufsatz mit Bekrönung auf einer Linie, so dass die größten und die kleinsten Exponate gleichberechtigt zur Ruhe kommen können. Die außerordentliche Bemalung der Möbel versucht mit ihren bunten Marmorierungen, Holz in Stein zu verwandeln. Noch stärker in Architektur verwandelt werden sie durch die Bekrönungen. Diesen Schmuckaufsätzen, eigentlich ausgeschnittene Silhouetten barocker Türmchen, hat Gründler malerisch plastische Formen verliehen und ebenso einen Schatten aus Farbe, der, den wahren Lichtverhältnissen entlehnt, zu genau dem Standort jedes einzelnen Schrankes passt. Die hohen mittigen Teile der Bekrönungen formen sich zu Kartuschen, in denen der Künstler mit einer farbenfrohen Mikromalerei bildnerisch kundtut, um welche Sammlung es sich im betreffenden Schrank handelt. Diese Bilder sind eine Mischung aus Wappen, Ornament und naturalistischer Darstellung. Sie zaubern zumindest ein Lächeln, wenn nicht ein Lachen in die Gesichter der heutigen Besucher, welches nach eingehender Betrachtung der ausgestellten Dinge einem Staunen weicht.
Eine Sammlung von Landpflanzen besteht überwiegend aus heimischen und exotischen Samen. Die bizarre Seychellennuss übertrifft alles, weil sie aussieht wie das Fragment einer Skulptur, die die untere Ansicht einer flach auf dem Boden sitzenden Frau zeigt, mit gerundetem Po, dem in der Spalte sichtbar werdenden Geschlecht und den Ansätzen der Oberschenkel. Die Bekrönung dieses Schrankes zeigt eine floristische Büste mit folgendem Aussehen: Als würde man durch eine gläserne Schädelplatte hineinschauen können, drängen sich in Höhe der Stirn anstatt eines Denkapparates leichtsinnige Fliederblüten. Blind drehen in den Augenhöhlen weiße Rosetten. Eine gurkenförmige Nase klemmt zwischen zwei rosigen Knospen, den Wangen, und stößt auf einen roten Lotos, den Mund. Unter einem grünen Blätterkragen schließen sich zwei rot flammende Dahlien an, die von den Schultern gerutschte Epauletten sein könnten, aber ebenso gut nach außen gedrückte Brüste, hochgeschoben von der großen gelben Scheibe einer Sonnenblume, hinter der sich die Aufhängungen für links und rechts schaukelnde, botanisch aufklärerische Girlanden befinden.
Ein paar Schritte weiter führen in die Tierwelt. Ein porträtierter Leopard, der seine Zähne auf eine Weise zeigt, die rätseln lässt, ob sein Versuch zu lächeln misslingt oder er es gleich auf ein hämisches Grinsen angelegt hat, war möglicherweise nur der Versuch des Malers, den zwiespältigen Ausdruck der Mona Lisa in die Fauna zu übersetzen. Seine Krallen bewehrte Unterarme sind lässig auf der illusionistischen Brüstung abgelegt, von der eine Haut herab hängt, erkennbar die einer Hirschkuh, durch noch daran befindlichem Kopf und langen, spindeldürren, baumelnden Beinen. Hinter diesem traurigen Vorhang quillt ein Tanzreigen mit allerlei Getier hervor, Schlangen, Echsen, eine davon ein Albino, Käfer und Schmetterlinge, ein Mischwesen aus Eichhörnchen und Fledermaus, ein Skorpion und eine schaurige Spinne. Auf diese Weise angekündigt, kann sich der Betrachter durch den Inhalt des Schrankes erschüttern lassen. In Gläsern eingeweckt schwimmen blutleere weiße Föten von Menschen und Tieren. Ebenso konserviert und mit Hilfe der gleichen hübschen, rot versiegelten Deckel vom zersetzenden Sauerstoff getrennt, schweben daneben Krokodilkinder, Eidechsen, ein meterlanger Wurm, dessen gesichtsloser Kopf genauso aussieht wie sein Schwanz, und weiter Unerkennbares, von dem ein zart besaiteter Besucher gar nicht wissen möchte, was es sei. Im Regal darüber liegen Vogelnester und in denen darunter Anordnungen von leeren Schildkrötenpanzern, Hörnern, Eiern, Knochen, Zähnen und ein getrockneter, ausgestopfter Fisch, der mit einem Blattornament tätowiert ist.
Unübersehbar im Raum hängt ein riesiges Krokodil unter der Decke. In dem Maße, wie seine Größe Angst einflößt, kann Anteil genommen werden an dem Mitleid erregenden Zustand des Monstrums. Hals, Beine und Schwanz stecken in festen Lederriemen, den Halterungen. Es sieht so aus, als wäre das Tier einst als tote Hülle nach Halle geschickt worden, um dort wieder zu einem fragwürdigen Leben erweckt zu werden. Durch den ganzen Leib ist eine Stange getrieben, die als neu erschaffene Wirbelsäule fungiert. Hineingestopftes Stroh, das an manchen aufgesprungenen Stellen hervorlugt, ersetzt das verlorene Fleisch des Ungetüms und der offen stehende Rachen, aus dem die falschen Zähne starren, bleibt aufgeklappt durch einen künstlich ausgeformten, rot bemalten Einsatz aus Zement.Ebenfalls an der Decke aufgehängt ist ein Trio mumifizierter Walpenisse, fächerartig angeordnet, ähnlich den Streben eines Handtuchhalters, wie er einst über dem befeuerten Küchenherd hing, und nur erkennbar durch den in gesenkter Tonlage gegebenen Hinweis des Museumspersonals, mit dem man ins Gespräch gekommen ist.
Als ein besonders würdiges Exemplar für eine barocke Wunderkammer erschien mir eine Perücke aus feinen Glasfäden. Der metallisch glänzende falsche Schopf mit schulterlangen, unbrennbaren Locken war zu Zeiten, als offene Flammen für Lichtquellen herhalten mussten und manch gelehrter Kopf dadurch beim Lesen des Nachts in Feuer geriet, sicher eine gute Idee. Die Erfindung konnte sich nicht durchsetzen, da das gläserne Haar, fiel es aus, nadelspitz durch jeden Stoff stechend einen unerträglichen Juckreiz auslöste. Im Schrank für Alltagskultur ist ein unscheinbarer, geflochtener Kranz zu sehen, auch ein Liebling des Museumspersonals, denn es handelt sich, niemand kann es erraten, um einen versteinerten ungarischen Käse aus dem 18. Jahrhundert.
Zum Ausklang sah ich mir mit schwindender Energie in der lebendigen Altstadt zwei sonderbare Kirchen an. Die Marktkirche ist so etwas wie ein nachträglich entstandener siamesischer Zwilling. Zwei nahe beieinander liegende Kirchen riss man einst bis auf die Türme ab und verband diese Reste mit einer Halle, so dass nun ein Korpus hinten wie vorne über ein Turmpaar verfügt. Die beiden ungleichen Doppel erzeugen eine Disharmonie, die im Inneren des Baus nicht mehr existiert. Eine gewaltige Orgel, die ich gerne gehört hätte, überflutete mit ihren unzähligen Pfeifen, der barocken Fassung und ihren begleitenden musikalischen Engeln eine ganze Stirnwand.
Der Dom in Halle hat gar keinen Turm. Gesteigert ist dieser Eindruck von Beschneidung durch das abgesägte Dach der gotischen Kirche und der Vertuschung dieses Makels mit Hilfe einer hohen, bogenförmigen umlaufenen Blende, was dem Bauwerk das Ansehen einer interessanten Fabrikhalle gibt. Aber nach Betreten des Gotteshauses war ich von seiner wahren Bestimmung überzeugt. Mir kam es so vor, als stände ich inmitten romanischer Bauglieder, über die flüchtig ein barockes Kleid geworfen war. Hoch oben sah ich von magischen Figuren, Gesichtern und Blattwerk bewohnte Kapitelle. In den Etagen darunter wucherten überdüngte Fruchtdekorationen, deren harmlose Üppigkeit auf charmante Weise verloren gegangen war durch den welken Eindruck, den die abplatzende Farbe hinterließ.
Während der Heimfahrt war ich nur daran interessiert, viele Kilometer so schnell wie möglich hinter mir zu lassen. Es war nervenaufreibend, auf der gut besuchten Autobahn mit meinem lahmen Gefährt Überholmanöver zu unternehmen. Die untergehende Sonne blendete mich bis ich Bremen erreichte. In meinem Zuhause kam mir alles komisch vor. Ich brachte Ausrüstung und Gepäck ins Haus. Auf dem Wohnzimmertisch breitete ich meine Devotionalien aus. Über die erworbenen Bücher und Postkarten sowie die eingesammelten Informationen der Museen und die aufbewahrten Eintrittskarten ließ ich meinen Blick schweifen und empfand eine satte Zufriedenheit. Danach ging ich zu Bett und fiel in traumlosen Schlaf.
Susanne Bollenhagen (geküzter Katalogtext 2009)