Forschungsreise

1. Tag: Anreise nach Fulda

Bevor ich ins Auto stieg, räumte ich endlos herum. Ich konnte mich von meinem Zuhause nicht ablösen - war lange nicht unterwegs gewesen. Am frühen Nachmittag begann die Reise mit einer Premiere. Ich fuhr das erste Mal durch eine Autowaschanlage und war beeindruckt. Für ein paar Minuten fühlte ich mich wie von einem großen Tier verschluckt und durch einen unbekannten Verdauungsapparat geleitet. Anstatt Panik stellte sich ein vergnüglicher Kitzel ein. Ich wusste, ich war durch die metallene Hülle meines Fahrzeugs geschützt und würde von der Maschine unversehrt wieder ausgeschieden werden. Dann ging es los. Ich glitt über die Autobahn. Hinter Hannover begann sich die Landschaft zu verändern. Erst die Magdeburger Börde, ein großer fruchtbarer Lehmtopf, dann erschienen allmählich die kulissenhaften Höhenzüge der Mittelgebirge. In Fulda rief ich ein über das Internet recherchiertes preisgünstiges Hotel an und bekam ein wunderbares rumpelkammerartiges Zimmer im „Drei Linden“. Über dem zum Hinterhof liegenden Gästeeingang presste ein lautes Gebläse Küchendünste durch fettige, flatternde Lamellen. Ich unternahm einen Abendspaziergang. Fulda war wider Erwarten ein guter Ort. Die Stadt roch nach Heu und nach Quellwasser, das tiefes Gestein durchstoßen und gewaschen hatte, bis es an der Luft seinen Hauch von mineralischer Reinheit und Gesundheit verströmte.

2. Tag: Fulda

In der Michaelskirche, die fast so alt wie der Aachener Dom ist, war das Fotografieren verboten. Ich konnte ein Foto in der unbeaufsichtigten Krypta machen. Dort unten lastet der ganze Bau auf einer einzigen zierlichen, niedrigen Säule mit schlichtem Volutenschmuck. Der Raum war magisch aber ich konnte mich dort nicht aufhalten. Eine geheimnisvolle Kraft trieb mich wieder nach oben. Die Luft war dicht, ein geschwängerter Moder, der keinen Sauerstoff für ein atmendes Wesen hergab. In der Vorhalle der Kirche saß ein älterer Mann hinter einem Schreibtisch, auf dem nichts außer einem sparsam bestückten Ansichtskartenhalter stand. Der Mann hatte eine seltsame, zerfliessende Kontur und schien, fest verankert auf seinem Bürostuhl, ein Pilzgewächs zu sein, das in der stillen Kirche den richtigen Humus gefunden hatte. Ich trug ihm mein Anliegen vor, sagte ihm, dass ich als Bildende Künstlerin für mein privates Archiv Fotos machen wolle. Er traute sich nicht mir das zu erlauben und griff nach einem Telefon, das sich im Schreibtisch befand. Die Nummer, die er mehrfach wählte, war immer besetzt. Er schickte mich ins Generalvikariat gleich um die Ecke. Dort stand ich vor einem jungen Priester, einem braven, bebrillten Abiturienten, der mir seine Nichtbefugnis zur Entscheidung einer solchen Angelegenheit erklärte. Er könne meine Frage an die entsprechende Stelle weiterleiten. Ich gab ihm meine Karte und bat um einen Rückruf auf mein Mobiltelefon. Den Rückruf erhielt ich nicht. In mir fing an sich Zorn zusammenzubrauen. Und alles wegen vier Fotos, die ich machen wollte und deren Motive mit Hilfe des Teleobjektivs dermaßen ausschnitthaft geworden wären, dass sie ihre Herkunft kaum verraten würden. Es ging um Fragmente von ornamentalen Malereien aus karolingischer Zeit. Ich holte den Zeichenblock, um eines dieser Ornamentbänder, das seit Jahrhunderten endlos in dem runden Raum entlang lief, festhalten zu können.

Ich fuhr weiter nach Würzburg und wieder erschien mir diese Stadt sperrig. Jahre vorher war ich dort gescheitert. Die Residenz, die ich sehen wollte, war geschlossen. Wie ich am nächsten Tag erfahren würde, war sie diesmal geöffnet, der Kaisersaal allerdings im Gerüst, so dass die Tiepolos dort unsichtbar bleiben würden. Ich nahm ein Zimmer in einem Hotel am Main gelegen und träumte wirr.

3. Tag: Würzburg und Bürgstadt

Meine Vernarrtheit in die Bilder Tiepolos begann während meines Kunststudiums und dieses Verhältnis hat sich erhalten. Tiepolo scheint mir unbeeindruckt vom Motiv, ja in lakonischer Distanz zu seinem Thema und technisch der Ökonomie verpflichtet. Wer gut zeichnen kann braucht nicht so viel zu malen. Was hatte Tiepolo aus seiner Aufgabe gemacht? Aus heutiger Sicht, dachte ich, hat er sie wunderbar erfüllt. Er huldigte der Macht seiner Auftraggeber aber ich sah auch einen versteckten Spott. Ich weiß nicht, wie wirklich die Welt, die er darstellte, damals war. Die Allegorien bestehen aus neben und übereinander gestapelten Menschen, Tieren, Pflanzen und Gerätschaften. All das ist scheinbar ohne Zwischenraum fast gepresst und wirkt wie eine unaufgeräumte Kuriositätenkammer. Wie gut, dass der geehrte Auftraggeber Fürstbischhof von Greiffenclau mit all dem nichts zu tun hat. Körperlos ist sein gerahmter Kopf, den Putten in den Himmel empor tragen, in Seitenansicht zu sehen. Auch Tiepolo hat sich zusammen mit seinem Sohn in diesem Werk porträtiert. Beide befinden sich auf der Erde, unter den Figuren, die zur Allegorie Europas gehören. Im Gegensatz zu den Menschen auf den Kontinenten haben im Himmel alle eine weiße Hautfarbe. Ich hatte noch nie so viele menschliche wie tierische Hinterteile und merkwürdige Seiten- Halb- und Unteransichten gesehen. Amerika, der damals neue Kontinent liegt Europa gegenüber und ist ganz wild. Die die Kontinente verkörpernden Figuren sind weiblich. Amerika, eine dunkelhäutige Frau mit Federkrone und nackter Brust, sitzt auf einem riesigen, melancholischen, braunen Krokodil. Eine magere Tigerin, zu Asien gehörend, zeigt ihr Hinterteil und ihr volles hängendes Gesäuge. Das Gemälde ist leicht gemalt. Es ist gewaltig, erschütternd, komisch und nie auf einen Blick zu erfassen. Den Kopf im bald steifen Nacken, das Opernglas vor den Augen, gab ich irgendwann auf, die rechteckige Balustrade abzuwandern, um das Bild ausführlich betrachten zu können und begab mich in die Prunkräume.

Ich schleppte mich müde durch die Stadt, weiter auf Motivsuche. Würzburg wurde im zweiten Weltkrieg grausam zerstört. Was die Bomben nicht zerschlagen haben, das ist nach meiner Auffassung vorher der Gegenreformation gelungen. Der riesige Dom, ursprünglich romanisch, wurde barockisiert. Fotografieren verboten. Ich drückte trotzdem zweimal auf den Auslöser, ohne das Stativ zu benutzen und hatte, wie ich später sah, zwei schöne, nur etwas verwackelte Bilder von den selten zu sehenden Knotensäulen gemacht. Die Würzburger Bischöfe haben sich sicherheitshalber dreimal bestatten lassen. In den Gräbern im Dom befinden sich nur ihre Körper. Ihre Herzen ruhen in der Abteikirche zu Ebrach und ihre Eingeweide in der Marienkirche, der unbezwingbaren Würzburger Festung.

Ich verließ Würzburg und wollte vorerst keine größere Stadt mehr besuchen. Ich fuhr den Main entlang und fand in Bürgstadt ein prächtiges Kirchlein, St. Martin mit Ausmalungen der Renaissance. Den Schlüssel erhielt ich in der Gärtnerei nebenan für einen Euro Eintritt. Mir folgten weitere Besucher. Ich hantierte mit der Kamera, hörte im Hintergrund eine Münze in eine Büchse fallen, ein in Kirchen nicht seltenes Geräusch, als plötzlich ein Orgeldonner losbrach und danach eine Grabesstimme vom Band in mitleiderregendem Tonus einen kunsthistorischen Vortrag herunterleierte. Die Verursacher dieses Lärms saßen andächtig in den Bänken. 50 Cent kostete der Spaß und war mit Sicherheit für Schwerhörige konzipiert.

Es gefiel mir in Bürgstadt aber alle Privatzimmer, die ich abtelefonierte, waren vergeben. Ich fuhr ein paar Kilometer weiter nach Miltenberg auf einen direkt am Main gelegenen Campingplatz und baute das erste Mal mein Zelt auf.

4. Tag: Miltenberg

Ich schlief sehr lange und beschloß noch eine Nacht zu bleiben. Miltenberg ist ein mittelalterliches Fachwerkstädtchen. Genau das richtige für etwas über mittelalterliche Touristen, die hier die Hauptstraße auf und abschlurften. Das für mich einzig Interessante blieb mir versagt. Die spätgotische Kapelle St. Laurentius birgt Wandmalerein dieser Zeit. Ich konnte sie durch die niedrigen Fenster sehen. Die Tür war verschlossen. Im Pfarramt, wo ich anrief, bekam ich eine Absage auf die Bitte um Eintritt. Man sagte mir, leider hätte der Küster so viel zu tun. Und nur er könne die Alarmanlage bändigen. Ja, wenn ich mich rechtzeitig angemeldet hätte.....Ja, ich könne doch noch mal wieder ins schöne Miltenberg kommen. Leider ginge es morgen auch nicht. Es sei so viel zu tun.... Hochzeiten....Aber ich könne die Nummer des Küsters haben. Beim Küster war nur der Anrufbeantworter zu hören, mit gesalbter Stimme besprochen.

5. Tag: Murrhardt

Ich hatte wieder lange geschlafen. Der Platz am Main war schön. Erst mittags kam ich los, verließ den Fluß, gondelte über die Landstraßen. Der Papst besuchte Bayern. Das war „die Nachricht“ im Autoradio. Die Berichterstattungen und Kommentare über seine Tage in Deutschland würden mich noch während meiner ganzen Reise begleiten. Ich war trotz langem Schlaf immer noch erschöpft. War das die andere Luft? Aber ich machte ja auch keinen Erholungsurlaub. In Murrhardt, irgendeinem Kaff irgendwo, machte ich Fotos von einer Kapelle, die mich enttäuschte. Erst später würde ich bei der Ansicht der entwickelten Fotos sehen, dass ich blind ganz wunderbare Bauplastik abgelichtet hatte. Ich fing an, meinem Führer in Buchform zu mißtrauen. Abends hatte ich das erste Mal Schwierigkeiten mit der Quartiersuche. Ich irrte um und in Schwäbisch Gmünd herum, besah mir einen Campingplatz, vor dessen erstarrter Spießigkeit mir graute. Zelte waren hier nicht zu sehen. Es war ein Dauercamperdorf. Man bot mir gnädig einen mit großen, spitzen Kieseln bedeckten Platz an. Ich floh. Sogar die Kinder dort hatten mich erschreckt. In Schwäbisch Gmünd wollte ich ein Haus betreten an dem groß „Fremdenzimmer“ angeschlagen war, sah aber im letzten Moment durch die geöffneten Fenster eine zahlreiche rein männliche Szenerie, die wie die Mitglieder eines „deutsch-türkischen Freundschaftsvereins“ aussahen. Einer der Schnurrbartträger kam dienstfertig auf mich zu. Ich floh. In einem unbezahlbaren Hotel erhielt ich zumindest ein Unterkunftsverzeichnis, das mir ein eleganter Dienstleistender mit einem abfällig-mitleidigen Blick überreichte. Außerhalb von Schwäbisch Gmünd fand ich das „Hotel Adler“. Es war mies und überteuert aber von drei netten, ältlichen, interessanten Schrullen geführt.

6. Tag: Schwäbisch Gmünd

Ich wachte auf und haßte Schwäbisch Gmünd. Um 11.00 Uhr kam ich ins Stadtzentrum. Es war unglaublich still, völlig ausgestorben. Saßen alle vor dem Fernseher, um die Übertragung der Papstmesse in München zu sehen? Die Sonne war hell und sehr warm. Ich konnte während der Gottesdienste nicht in die Kirchen. Das war gar kein Problem. Denn ausnahmsweise befand sich hier das Interessante außen an den Bauten. Die Stunde, die ich arbeitete blieb ruhig. Eine Rasselbande von vier kleinen Jungen, Brüder, wie sie mir sagten, ließ ich durchs Teleobjektiv schauen, nachdem sie anfingen mich auszufragen und bevor sie anfingen mir auf die Nerven zu gehen.

St. Johannis ist eine architektonische Erscheinung wie aus dem frühchristlichen Italien, allerdings über und über gewappnet mit menschlichen, tierischen und pflanzlichen Ornamentformen. Flechtornamente bilden zackige Bänder. Tiere, Menschen, Fabeltiere und Masken starren frontal mit großen Augen, um das Böse zu bannen. Sie saugen die Schlechtigkeiten dieser Welt auf. Niemand der die Kirche betritt, kann ihnen entgehen, da sie die ganze Außenhaut des Gebäudes, bis in den letzten Winkel, bewohnen. Man betrachtet sie, schaudert und zügelt seinen aufkommenden Alp, da man sich für einen Moment erinnert, dass es ein Grauen gibt, für das die eigene Vorstellungskraft nicht ausreicht.

7. Tag: Sigmaringen, Bingen, Scheer

In Sigmaringen war die von mir erwählte Sehenswürdigkeit wegen Renovierung geschlossen. Die Hohenzollerische Kunstsammlung, laut Führer eine beachtliche Gemäldesammlung in historistischen Räumen, die ich mir als Museum im Museum vorstellte. Anstatt diesem Vergnügen gönnte ich mir ein Wildragout mit Spätzle in der „Goldenen Traube“.

Ich bummelte, meinem Führer vertrauend, noch zwei Kirchen ab. Beide erwiesen sich als sehenswert. In der ersten, der Pfarrkirche zu Maria Himmelfahrt in Bingen, waren im rippengewölbten Chor botanisch genau dargestellte Pflanzen zu sehen. Die Malerei war nirgends beschrieben und mir war ihr Alter unklar. Ich hatte so etwas noch nie gesehen.

Eine Nonne betrat die Kirche, deren eigentliche Sehenswürdigkeit der gotische Altar ist. Sie erschien mir wie ein wandelnder Vorwurf. Wir wechselten keinen Gruß und kein Wort. Mir kam es vor, als wollten wir uns gegenseitig vertreiben, um jeweils allein an diesem Ort unseren Geschäften nachgehen zu können. Ich zögerte, holte dann doch meine Kamera und fotografierte. Die Nonne betete und klapperte später am Marienaltar herum. Ihretwegen traute ich mich nicht den Chorraum zu betreten. Sie hatte den längeren Atem. Ich ging und sie hatte die Kirche für sich allein.

In der zweiten Kirche, St. Nikolaus zu Scheer, war ich allein. Die Kirche stand auf einem Berg. Das Pfarrhaus mit einer Tafel, die an den hier einst verweilenden Eduard Mörike erinnerte, stand gleich nebenan. Der Ort war völlig verlassen und ich dachte wieder milder über die Nonne, da ich es genoß, keine Menschenseele anzutreffen. Ich stand inmitten reinstem Barock und Rokoko, Gold und Marmorstuck. Die Kirche war klein und somit erschienen mir die Illumination erträglich, ja fast heiter. Man konnte die Zuckergußrocaillen, die Kapitelle vortäuschten, fast berühren. Auf den zahlreichen Altären standen Unmengen von Petersilientöpfen und ähnlichen Grünpflanzen. Was oder wie sollte ich fotografieren? Auf den vielen Bildern litten die Heiligen als wäre Blut nur rote Farbe. Die Theatralik ihrer Gesten war so überspannt, dass ich ihnen gar nichts glaubte. Sie waren mit Pfeilen gespickt, von Schwertern durchbohrt und trotzdem hatten die Wangen ihrer ansonsten sehr bleichen Antlitze eine Röte, als hätten sie gerade ein befriedigendes Schäferstündchen unter freiem Himmel hinter sich. Gut – ich muß zugeben, dass ich keinen Zugang zu den Formen dieser Kunst in Zusammenhang mit Religiosität habe. In mir lösten sie Gefühle aus, die mich ähnlich überkommen, wenn ich ein Musikantenstadel im Fernsehen verfolge: Faszination, ungläubiges Staunen und Abscheu.

Ich fand mein Quartier in Fliesshorn direkt am Bodensee, nahe der Insel Mainau und setzte mich in die Gaststätte meines neuen Campingplatzes. Mein Zelt stand nahe eines Teiches, in dem ab und zu die Frösche quakten. Gerade war ein beeindruckendes Gewitter vorbeigezogen, es zuckten die Blitze und noch hatte ich den paukenhaften Donner im Ohr, der durch die Nähe des Gebirges einen unwirklichen Hall bekam. Es war schon dunkel. Ich trank einen Birnauer Wein, bevor ich mir mein schäbiges Zelt ansehen mußte, dem ich nichts zutraute. Ich hoffte auf eine komfortable Nacht, denn ich war müde. Beim Zelt abbauen in Sigmaringen hatte ich den ersten Schaden festgestellt. Die Stange für den Vorbau war schon kaputt. Eine Notreparatur mit Pflaster aus dem Verbandskasten war nötig gewesen. Und das beim zweiten Mal aufbauen! Jetzt zum dritten Mal errichtet, sah meine Behausung ziemlich schief aus. Kann so ein Zelt regendicht sein?

8. Tag: Reichenau

Ich fuhr auf die Reichenau, nach Würzburg dem zweiten Weltkulturerbe der Unesco. Erste Station war St. Georg in Oberzell. Ein Juwel. Die Kirche ist nicht groß. Sie steht völlig frei inmitten von Gemüsefeldern. Es war ein angenehmes Fotografieren, obwohl sich an einem Ort wie diesen die Besucher die Klinke in die Hand geben. Der Raum ist für einen frühen romanischen Bau überraschend hell und heiter und bietet eine fast komplette und vorzügliche Bemalung der Wände. Das Bildprogramm erzählt von Christus als Magier. Jesus Christus heilt Kranke und erweckt Tote.

In Mittelzeller Münster konnte ich mich nicht lange aufhalten. Die dunkle große Halle, erweckte mein Mißfallen. Hier war die Geschichte nicht mehr sichtbar, nur noch nachzulesen. Im Chor hielt sich eine Gruppe auf, die einem Führer lauschte. Ich schlich mich dazu, sah ein interessantes gotisches Rippengewölbe und fuhr die Beine meines Stativs aus. Das Geräusch ließ den jungen, dicklichen Priester, der die Führung hielt, einen Blick auf mich werfen. Ein harmlos-gleichgültiges Gesicht mit Brille sagte freundlich zu mir: „Leider dürfen hier keine Fotos mit Stativ gemacht werden.“ Lüge, dachte ich, dem Mann tat es gar nicht leid. Mit Freuden hatte er seinen Vortrag unterbrochen, um mir das zu sagen. Das versammelte Publikum glotzte mich an wie einen rechtzeitig verhinderten Straftäter. Ich zuckte mit den Schultern, drückte mich hinter die Chorschranke und machte ungerührt immerhin zwei Fotos. Dann verließ ich den Ort.

St. Peter und Paul in Niederzell am Ende der Insel ist wieder hell und heiter. Auch der Rokokostuck vergällte mir diese Kirche nicht. Ärgerlich fürs Fotografieren war, dass das spätmittelalterliche Triumphkreuz vor dem Kopf der Majestas Domini der romanischen Malerei im Chor hängt. Hinter der Kirche war ich gleich am See. Die Sonne schien. Ein Mädchen ging schwimmen. Ich tat es ihr nach und sah durch das glasklare Wasser auf den Grün bewachsenen Grund des Sees, wo grau-durchsichtige flinke Fischlein umherschossen. Die Reichenau ist ein gesegnetes Stück Erde. Hier gibt es Tomaten- und Salatfelder anstatt Kartoffel- und Rübenäcker. Die Bauern kultivieren viel in Gewächshäusern und schaffen bis zu drei Ernten im Jahr. Der fette Klee auf einer Wiese stand so hoch, dass ich Mühe hatte zu glauben, tatsächlich Klee vor mir zu haben.

9. Tag: Konstanz und Meersburg

Ich wachte schlecht gelaunt auf, verließ mein Luftmatratzenlager und ging direkt zum See, ins kalte Wasser schwimmen. Die Laune stieg. Die heiße Dusche danach tat gut. Ich fuhr nach Konstanz, parkte und machte mich auf, um endlich einmal ohne die unhandliche Last von Kamera und Stativ zu flanieren anstatt zu arbeiten. Im Münster sah ich mich um und holte doch die Kamera.

Zu viele schöne Absurditäten gab es zu sehen. Ein Sammelsurium von Zeugnissen aus mehr als zehn Jahrhunderten waren in diesem riesigen Bau in friedlicher Koexistenz zu finden. Die Altarnischen wirkten mit ihrem Zubehör wie düstere voll geräumte Abstellkammern. Die Halle des Kirchenschiffs war luftig, hell und licht. Kreuzgang, Krypta und zwei Kapellen boten wieder neue Abwechslung. Unzählige erheiternde Details machten mir so viel Freude, dass mir weder die historistische Bemalung, noch die schweren barocken Altäre mißfielen.

Von außen macht das Münster einen wesentlich geschlosseneren Eindruck. Die reinste Gotik, anscheinend frisch restauriert, denn der Bau wirkte nagelneu in seinem schönen, hellen, nebelgrauen Sandsteinkleid. Ich entledigte mich endgültig der Kamera, steuerte auf den Hafen zu und fand wunschgemäß ein Linienschiff vor, das bereit zur Abfahrt nach Meersburg war.

Eine halbe Stunde Fahrt über den klaren grünblauen See und ich konnte in dem entzückenden winzigen Hafen Meersburgs an Land gehen. Die kleine Stadt schwappte über von Touristen und war bald durchwandert. Es gibt eine obere und untere Stadt. Somit hat man viele schöne Ausblicke. Von oben auf die untere Stadt, die Weinberge und den See. Von unten sieht man imposant das Schloß, die Burg und das prächtige Weingut. Ich besuchte die Burg. Eine Reverenz an die Hülshoffsche Annette. Es war, als wenn man durch das versteinerte Gedärm eines Dinosauriers wandelt. Räume, Gänge, Treppen ohne verständliches Maß oder Plan. Alles war von der gleichen modernden Substanz, die Mauern, sowie die sich daran und darin befindlichen festgewachsenen Exponate. Ritterrüstungen, Mobiliar, kahle Tierfelle, Küchengerät, Heiligenfiguren, ursprünglich aus Holz und ein ausgestopfter, reparierter Elchskopf, der, ohne die zentimetergroßen Zickzackstiche seiner rettenden Naht, schon längst sein verdientes endgültiges Ende gefunden hätte. Schon die Eintrittskasse hält was sie verspricht mit ihren handgemalten Schildern. Aus Holz geschnittene, rot lackierte Pfeile leiten den Besucher durch das Labyrinth. Es ist wirklich alles aus einem Guß. Das ideale museale Museum. Die Burg befindet sich noch heute in Privatbesitz, was ihren anrührenden Zustand und den relativ hohen Eintrittspreis erklärt. Die Räume der Dichterin, die hier gestorben ist, machten mich etwas traurig, bedenkt man ihren Lebenslauf. Andererseits hatte sie es gut im Turm. Die Aussichten von dort auf den See und die Stadt sind vielfältig und traumhaft.

Bevor ich das Schiff zurück nach Konstanz nahm, blieb Zeit für einen Kaffee auf der großen Seeterrasse des Hotels „Zum wilden Mann“. Unter Platanen, deren beschnittene Äste zu einem Dach in Sonnenschirmhöhe verwachsen waren, konnte man Platz nehmen. Auf zwei freigehaltenen Flächen tanzten am späten Nachmittag Paare zu der schmissigen Elektro-Orgelmusik einer Einmannkapelle. Später auf dem Schiff, starrte ich die für mich zum ersten Mal sichtbaren hohen Schweizer Berge des Säntis an, die mich ein wenig erschreckten.

10. Tag: St. Gallen

Von meinem paradiesischem Campingplatz aus, der im Rückblick so etwas wie mein Hauptquartier gewesen war, machte ich einen Tagesausflug nach St. Gallen. Die Autofahrt war eine Plage. Langsam ging es am Schweizer Bodenseeufer entlang, das nicht besonders attraktiv ist. St. Gallen überraschte mich. Es ist eine große, lebendige und gar nicht museale Stadt. Ich ließ die Kamera im Auto, nahm Zeichenstifte und Opernglas mit. Das tat mir gut. Ich hatte weniger zu tragen und einen freieren Blick. Die erste Kirche auf dem Weg, St. Laurenzen war seltsam. Eine liebenswürdige, geschwätzige Kirchenführerin, klein gewachsen wie eine Zwergin, erzählte mir aus ihrem Leben als Sekretärin für archäologische Ausgrabungen und vieles andere mehr. Beim Verlassen der Kirche fiel mir eine Tafel auf. Es stand darauf zu lesen: „Bitte vergessen Sie nicht nach dem Verlassen der Kirche ihr Handy wieder einzuschalten.“

Die Stiftsbibliothek war eine Sensation. Ich befand mich zum dritten Mal an einem Ort, der den Titel Weltkulturerbe der Unesco trägt. Der Innenraum der Bibliothek ist nicht besonders groß. An den Wänden sind vom Boden bis zur Decke reichende gerundete und bestückte Bücherregalen aufgestellt. Dunkles Holz sowie die barocken Deckengemälde erzeugen Wärme. Zwischen den Regalen und den Fenstern fand sich noch Platz für freundliche Putten. Der Fußboden ist mit schönen, sehr großflächigen Intarsien belegt, wenn es sich nicht sogar bei dieser Größe um ganze ornamental geschnittene Hölzer handelt. Das Muster erkennt man erst auf einer gezeichneten Aufsicht, die man mit der Eintrittskarte erhält. In mehreren Vitrinen sah ich einige der großzügig ausgestellten kostbaren Handschriften dieser überaus bedeutenden Sammlung. Unbeachtet und deplaziert war die Mumie einer altägyptischen Prinzessin samt ihrer Sarkophage ausgestellt. Unbestattete Tote in musealen Zusammenhängen zu sehen, machen mich immer betroffen und wecken mein Schamgefühl.

Die Kathedrale von St. Gallen sieht wie eine putzige Meissner Kaffeekanne aus, wenn man vor der Front mit ihren beiden Türmen steht und ihre wahre Größe nicht erkennen kann. Betritt man die Kirche, so eröffnet sich eine fußballfeldgroße Halle. Das Innere ist hell durch viel Licht von außen. Der Kirchenraum zeigt sich offen, nur seitlich von gewaltigen eckigen Säulen gestützt. Weiße Wände und in Grautönen gehaltene perspektivische Deckengemälde. Die Übergänge von der Decke zu den Säulen und der Kapitelle darstellende Stuck, ist in einem kalten, sehr giftigem hellgrünen Farbton gefasst. Es schweben ockerfarbene Stuckfiguren darauf. Das garstige Grün trennt ein orangebraunes Band von dem Weiß der Wände. Trotz Größe und Offenheit fühlte ich mich bedrückt und eingeschüchtert. Dieses geschlossene Baukunstwerk beeindruckt durch Superlative. Ich zählte vierzehn Beichtstühle mit Namensschildern. Knapp die Hälfte des Kirchenraums ist für den Chor abgetrennt. Das ca. zwanzig Meter lange hohe goldene Gitter sperrt das ungeweihte Volk von vielen dahinter befindlichen Altären und dem enormen Chorgestühl ab. Sogar als Tourist fühlt man sich durch diese Inszenierung dazu verdammt, deutlich nur im Publikum zu sitzen, um den nicht mal sichtbaren Stellvertretern der Stellvertreter des Stellvertreter zu huldigen. Das Eigenartigste war, dass ich an diesem Ort, der mich erschreckte, die frommsten und unterwürfigsten Posen von betenden Gläubigen seit Beginn meiner Reise gesehen habe.

11. Tag: Chur und Brunnen

Ich hatte mich vom Bodensee und dem schönen Fliesshorn verabschiedet. Auf der Autobahn in Richtung Chur befielen mich Zweifel. Die näher kommenden Berge machten mir Angst. Im Autoradio wurde Föhn angesagt. In Chur, das mir als Stadt genau wie St. Gallen nicht gefiel, ging ich schnurstracks zur Kathedrale. Der Anblick, der sich mir bot war unglaublich. Der Bau wurde außen wie innen restauriert. Das Innere konnte man nur von einer kleinen Empore aus besichtigen. Der eigentliche Kirchenraum war eingerüstet und den arbeitenden Restauratoren vorbehalten. Ich konnte wahrnehmen, dass es hier eine sehr besondere Aura von heidnisch-christlichen Kräften zu erleben gab, nur war das gefangen auf der Empore und ohne sich bewegen zu können, unmöglich genauer zu untersuchen. Eine Steigerung dieser Behinderung war ein jüngerer, graubekittelter Mann mit blondem Schnauzbart, der den Steinboden der Empore, wo sich schon die Besucher auf die Füße traten, mehr als übergründlich heiß aufwischte. Dieser stoische Mann verwandelte die Kirche in ein Theater. In der Szene, die gespielt wurde, fühlte ich mich wie eine Schauspielerin, die reichlich zu früh oder zu spät auf die Bühne tritt und anstatt das Publikum, die gleichgültigen Theatertechniker antrifft. Diese Kirche war ein Patient auf dem Operationstisch. Besucher unerwünscht. Das schien das Zeichen dafür zu sein, die Schweiz schnell zu verlassen.

Mir war komisch, leichte Panik stieg auf. Ich kaufte ein garniertes Käsebrötchen, biß hinein und schmeckte etwas mir Bekanntes. Ich kam nur nicht darauf was es war. Es dauerte Minuten bis ich es wußte. Es waren saure Gurkenscheiben. Irgend etwas stimmte nicht. Ich fuhr trotzdem weiter. Die Berge wurden höher, die Straße immer abenteuerlicher. Ich verpasste eine Ausfahrt und somit einen sehenswerten Ort. Weiß man nicht genau Bescheid, hat man kein gutes Kartenwerk, dann ist man schon verloren und befindet sich in einem anderen Tal. Man kann nur umkehren. Quer über die Berge geht es nicht. Anhalten und die Karte lesen ist auch kaum möglich mangels Seitenstreifen und Ausschilderung in der Schweiz war und blieb mir ein unverständliches Rätsel. Ich machte nicht kehrt und dachte: „Fahr da durch. Irgendwann muß es ja aufhören und dann hast du es hinter dir.“ Die steinernen Ungeheuer drückten mich. Ja, sie waren erhaben und gewaltig. Aber wo war der Himmel? Ich mußte gegen Panik ankämpfen.

Eine Graubündener Kirche habe ich doch fotografieren können. Im Dorf Waltensburg, in dem sie steht, sah ich merkwürdig gebaute Häuser, luftige Speicher und überall Holzvorräten – einmal hinter einem großen Wohnzimmerfenster bis zur Decke hochgestapelt. Es kam mir genauso exotisch vor wie ein Fischerdorf in Indien. Weiterfahren. Es ging in kurvenreichen Serpentinen nur noch bergauf. Ich fuhr über den Oberalbpass. Dort oben war es schön. Die baumlosen Höhen über mir zeigten nackten Fels oder einen Bewuchs von kräuterartigem Gras. Der Himmel war nicht mehr allzu arg von den Kolossen verstellt und das tiefe Tal gar nicht mehr zu sehen. Ich hielt an und trank Wasser aus einem Bach. Manchmal kam die Sonne durch. Ansonsten dampften die grauen Wolken über mir und weißer Nebel unter mir. Dann ging es nur noch bergab. Von Graubünden kam ich nach Uri. Immer noch Berge aber plötzlich auch Wasser. Ich war auf einer Straße an einem See. Das beruhigte mich. Ich bog ab, fuhr in einen Ort namens Brunnen mit Luxushotels an der Uferstraße. Als ich vernünftig die Karte lesen konnte, stellte ich fest, dass ich mich am Vierwaldstätter See befand. Wo die Reichen Urlaub machen, dachte ich, da wollen auch die Armen hin. Ich fand beim ersten Versuch ein passables, erschwingliches Zimmer im „Hotel National“ nahe des Bahnhofs.

Ein Spaziergang offenbarte mir die Landschaft. Der an dieser Stelle schmale See bildet eine Kurve und ich stand an ihrer Kehre. Ich war beglückt durch den Anblick des Gewässers, das sich in beide Richtungen endlos ausbreitete. Das Wasser hielt mir das steinerne Getürm vom Leib. Die Berge waren sehr nah, wirkten aber beschnitten durch die glatte Fläche des Sees, der eine beruhigende Horizontale erzeugte. Mit der Neugier, mit der man ohne Angst ein wildes Tier betrachten kann, sobald es sich in einem Gehege befindet, starrte ich auf einen großen Berg mit Gletscher. Zu meinen Füßen gluckste das wunderbare, klare, grünliche Wasser. Die Sonne ging dramatisch unter. Zwischen grauen Wolkenstreifen schimmerte perlmutt, rosa, gelb und hellblau die Dämmerung. Wo das Licht die Berge noch erreichte, schienen sie von innen beleuchtet. Unwirklich, ja unglaublich, fast unecht wie ein barockes Gemälde zeigte sich mir die Kulisse - wären da nicht die Geräusche gewesen, die alles in die Wirklichkeit zurückholten oder die Szene noch unwirklicher machten. Ich hörte, während ich am Seeufer einer mediteran ausgestatteten Stadt entlanglief, Alphörner ihre melancholische Klage über den See schicken, vermischt mit dem Gebimmel unzähliger Kuhglocken.

Als es dunkel war, setzte ich mich in eine sehr zünftige Kneipe namens „Kleinstadt“. Ich verstand kein Wort. Die Gäste waren unglaublich laut, redeten ununterbrochen alle durcheinander und lachten viel. Das gefiel mir. Erst am nächsten Morgen erfuhr ich durch die Hotelliteratur, dass ich mich im Herzen der Zentralschweiz befand.

12. Tag: Einsiedeln und Schaffhausen

Ich betrat die Kirche des Benedektinerklosters Einsiedeln, das Ziel von Wallfahrern aus aller Welt. Die Innenausstattung der Stiftskirche von Einsiedeln erinnert an die Kathedrale von St. Gallen, hat aber im Gegensatz zu dieser eine sehr viel heiterere Farbigkeit, einen verspielteren Grundriß und nicht diese gewaltige Größe. Die Deckenfresken sind lebendiger. Der Stuck, der den Übergang von Decke zu den Wänden auflöst, tropft und sprenkelt diesmal rosa, golden und hellgrün. Die Wände, ebenso der sich darauf minder prächtige befindliche Stuck, sind wie in St. Gallen weiß. Jetzt hatte ich das Programm des Barock verstanden: Alle Pracht ist unerreichbar nach oben ausgerichtet. Auf Erden ist nichts, im Himmel alles.

Auf einer von Elektrizität durchzuckten, kurz vor der Explosion stehenden goldenen Wolke, schwebt die schwarze Madonna von Einsiedeln. In einem tapezförmigen, steifen, prächtigen Gewand mit Umhang gehüllt, ist sie körperlos. Das Christuskind, ebenso gekleidet wie sie und ebenso schwarz, wirkt wie eine Handpuppe der Königin. Die Madonna wird im Einklang zur Liturgie des Jahres in unterschiedliche Farben gekleidet. Mutter und Kind sind mit gewaltigen Kronen geschmückt. In der rechten Hand trägt sie einen goldenen Stab. Am Handgelenk baumelt wie ein Täschchen ein goldenes brennendes Herz. Auf der Brust trägt sie ein Kreuz. Über der Muttergottes in der Arkade der Kapelle in der sie sich befindet, hängen an Nylonfäden zwölf silberne brennende Herzen. Zu ihren Füßen war in Vasen eine Kaskade von rosa und weißen Astern arrangiert . Die farbigen Scheiben der Blüten ließen die energetische goldene Wolke vor dem rosa und blauen Marmorstuck erschweben. Das schwarze Gesicht der Madonna ist in sich gekehrt, verschlossen, fast ausdruckslos. Ihren Blick kann man zart lächelnd, aber auch gebieterisch streng deuten. Auf keinen Fall hat sie etwas Mütterliches. Es ist nicht erkennbar, ob sie ihre Augen geschlossen oder geöffnet hat. Die Figur ist sehr klein. Ca. 1,20 Meter hoch. Keine Maria, die ich bisher sah, war wie diese, die mich erschaudernd an die indische Göttin Kali erinnerte. Sie erschien mir nicht christlich sondern wie ein magisch aufgeladener zauberkräftiger Fetisch. Sie strahlt absolute Autorität aus. Die Kapelle, in der sie steht, ist ein freistehender architektonischer Körper unter dem Dach der Stiftskirche und ebenfalls nicht groß.

Bei Schaffhausen hielt ich an, um mir das Naturwunder des Rheinfalls anzusehen. Für 70 Cent Eintritt kann man Treppen steigend das tobende Element aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten. Von oben in Übersicht, weiter unten aus einer Entfernung, wo man von dem nassen Atem des brüllenden Flusses angesprüht wird. Ein nie verblassender Regenbogen bildet dort einen Halbkreis. Nicht nur in Kaskaden stürzen die Wassermassen. Wie ein Dolch sitzt ein Felsen in der Mitte des Stroms und spaltet ihn. Das vormals blaugrüne Wasser, dreht und quirlt aufgebracht, entfärbt sich zu einem schimmernden hell durchsetzten Grün, bis es vollends irre in weißen Schaum verwandelt tosend herabstürzt. Sich schnell wieder beruhigend, noch ein paar Wirbel hinterlassend kommt der junge Rhein zu sich, nimmt wieder seine dunklere blaugrüne Färbung an, macht sich auf den Weg, um andere Flüsse aufzunehmen und breit angeschwollen irgendwann sein süßes Wasser in das salzige des Meeres zu ergießen.

13. Tag: Tübingen, Bebenhausen, Einbeck

Ich war bis Tübingen gekommen und hatte ein Zimmer in einem Ort etwas außerhalb gefunden. Ich wollte nach Hause und verzichtete auf die Besichtigung der Universitätsstadt, die zudem eine derartig verwirrende Verkehrsführung hat, dass ich den Eindruck erhielt, man wolle mich nicht im Stadtzentrum haben. Ich besuchte das ehemalige Zisterzienserkloster Bebenhausen ein paar Kilometer weiter, das über eine fast geschlossene Anlage verfügt. Hier war mir kunsthistorisch fast alles bekannt. Ich konnte fotografieren wie gewohnt, war aber angesichts der Eindrücke der letzten zwei Tage fast etwas gelangweilt. Keine Spur von dem exotischen Barock oder von einer weihrauchgeschwängerter Atmosphäre. Dafür war das Haus museal vorbildlich geführt mit einer unaufdringlichen Aufklärung zur Geschichte. Es war ein schöner Ausklang. Dann ging es los mit dem Kilometer fressen. In Einbeck kehrte ich ein, um eine letzte Jause einzunehmen und mich von der Autobahn zu erholen. Bei einem kurzen Rundgang stellte ich fest, dass es in dieser Stadt das schönste, bunteste und phantastischste Fachwerk zu sehen gibt, das ich kenne.

Susanne Bollenhagen (gekürzter Reisetext 2006)